Brüssel will mit 43 Milliarden € Europas Mikroelektronik bis 2030 auf 20 % Marktanteil hieven – doch andere investieren weit mehr
Dresden, 5. Februar 2024. Als „utopisch“ hat Geschäftsführer Frank Bösenberg vom sächsischen Mikroelektronik-Verband „Silicon Saxony“ die EU-Pläne bezeichnet, den Weltmarkt-Anteil der europäischen Halbleiter-Industrie bis 2030 auf rund 20 Prozent zu steigern.
„Wir können unsere Kapazitäten steigern und tun da gerade auch hier in Sachsen bereits“, sagte Bösenberg bei einem Referat vor ostdeutschen Mikroelektronik-Alumni in den Technischen Sammlungen Dresden. Wie die Europäer aber bei ihrem vergleichsweise geringen Kapitaleinsatz Asien und die USA beim Ausbautempo einholen oder gar überholen wolle, sei ihm völlig schleierhaft.
Je nach Analyse hat Europa jetzt 7 bis 10 % Weltmarktanteil
Gestützt auf internationale Analysen verweist „Silicon Saxony“ darauf, dass Europa derzeit einen Anteil von etwa neun Prozent an der weltweiten Halbleiterproduktion hat. Andere Marktanalysten sind auf sieben Prozent gekommen. Die EU-Kommission selbst geht von zehn Prozent aus. Um auf 20 Prozent zu kommen, wie von Brüssel als Ziel ausgegeben, müsste Europas Chipindustrie ihre Kapazitäten also theoretisch verdoppeln oder gar verdreifachen. In der Praxis aber müsste Europa sogar mindestens viermal so viele Chip-Fabriken wie heute hochziehen, um die selbst gesteckten Planvorgaben zu erreichen. Denn auch andere Länder und Regionen investieren derzeit massiv in den Auf- und Ausbau ihrer Mikroelektronik-Wirtschaft.
Allein Südkorea steckt zehnmal soviel ins seine Chipindustrie wie ganz Europa
Die USA beispielsweise, die jetzt schon rund 38 % Marktanteil haben, wollen in den nächsten Jahren mindestens 200 Milliarden US-Dollar in ihre Halbleiterindustrie stecken. In Taiwan investieren Marktführer wie TSMC, UMC & Co. rund 100 Milliarden Dollar, wobei hier staatliche Subventionen eine eher untergeordnete Rolle spielen. Japan pumpt etwa ein bis zwei Billionen Yen (umgerechnet rund sechs bis zwölf Milliarden Euro) in diesen Sektor, in China sind etwa 150 Milliarden Dollar. Selbst Indien will jetzt eine eigene Chipindustrie aufbauen und will dafür zehn Milliarden Dollar locker machen. Das alles wird noch von Südkorea weit übertroffen, wo sich Staat und Wirtschaft auf rund 452 Milliarden Dollar Mikroelektronik-Investitionen geeinigt haben. Dem stehen in Europa nur rund 43 Milliarden Euro aus dem europäischen Chipgesetz und noch nicht abschließend bezifferte Zuschüsse für „Wichtige Projekte von gemeinsamem europäischen Interesse“ (Ipcei I und II) in der Mikroelektronik gegenüber.
NXP-Schätzung: Europa müsste bis 2030 eine halbe Billion investieren
Angesichts dieses internationalen Subventionswettlaufs hatte der niederländische Elektronikkonzern NXP bereits vor einiger Zeit einmal durchgerechnet, wie viele Zusatzmittel tatsächlich nötig wären, damit sich Europa auf 20 % Weltmarktanteil hoch katapultieren kann: Demnach müssten statt 43 Milliarden rund eine halbe Billion Euro bis Ende der Dekade in den Kapazitätsausbau europäischer Chipstandorte wie Dresden, Leixlip, Grenoble, Eindhoven und andere mehr fließen. Selbst wenn man davon ausgeht, dass davon „nur“ 30 bis 50 Prozent als Subventionen vom Steuerzahler finanziert werden müssten, ist eine Finanzierung solcher Summen in Europa noch nicht mal ansatzweise in Sicht.
Verband: Bis 2030 überholen Mikroelektronik & Co. die Autoindustrie in Sachsen
Hinzu kommt: Geld ist noch nicht mal alles, was fehlt, denn auch die Facharbeiter und Akademiker, die für einen derartigen Ausbau der Branche in Europa benötigt würden, fehlen größtenteils. Allein Sachsens Hochtechnologie-Branchen dürften bis zum Ende der Dekade von derzeit rund 76.100 auf dann etwa 102.000 Beschäftigte wachsen, schätzt Frank Bösenberg. „Damit werden die in unserem Verband organisierten Branchen bis 2030 die Autoindustrie als bisher führende Industrie in Sachsen ablösen“, prognostiziert er. Die Hälfte des Zuwachses von 24.000 Köpfen entfällt laut Schätzung von „Silicon Saxony“ allein auf die sächsische Chipindustrie, die andere Hälfte auf Software-Schmieden und andere branchenverwandte Betriebe. In einer überalternden und schrumpfenden Gesellschaft wie in Sachsen wird dieser Bedarf aber nicht aus eigener demografischer Kraft zu decken sein.
BDI hält EU-Ziele schon wegen Fachkräftemangel für „unrealistisch“
Welch ernstes Hindernis der Fachkräftemangel neben den Finanzierungsproblemen für die ambitionierten EU-Ziele sind, darauf hatten auch schon der „Bundesverband der deutschen Industrie“ (BDI) und der Zentralverband der deutschen Elektro- und Digitalindustrie (ZVEI) hingewiesen: „Angesichts des Mangels an Spezialisten ist die durch die EU angestrebte Steigerung der Produktionskapazitäten auf 20 Prozent des weltweiten Volumens bis 2030 unrealistisch“, warnte BDI-Präsident Siegfried Russwurm schon im März 2023. „Wenn Europa seine Halbleiterproduktion signifikant steigern will, müssen Privatwirtschaft und Mitgliedsstaaten verstärkt in die Aus- und Weiterbildung von Fachkräften investieren.“
Auch viele Infrastruktur-Probleme zu lösen
Hinzu kommen all die vielen „kleinen“, kommunalen Probleme die sich aus einem massiven Ausbau der Halbleiterbranche und einem Zuzug internationaler Fachleute ergeben, angefangen beim wachsenden Bedarf an neuen Wohnungen, Häusern, Kitas und Schulen bis hin zu einem forcierten Ausbau von Straßen, Bus- und Bahnverbindungen und dergleichen mehr. Und mit ähnlichen Problemen haben auch andere europäische Halbleiterstandorte zu kämpfen, nicht nur Sachsen.
Autor: Heiko Weckbrodt
Quellen: Silicon Saxony, Alumni-Treffen TSD, Oiger-Archiv, derstandard.de
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