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Das Ende von Pentacon und der Blick auf Lebensbrüche

Zeitzeuge Ngoc Hanh Dao besucht mit seinem Sohn die Pentacon-Ausstellung "Bis zum bitteren Ende" in den Technischen Sammlungen Dresden. Foto: Anja Schneider für die TSD

Zeitzeuge Ngoc Hanh Dao besucht mit seinem Sohn die Pentacon-Ausstellung „Bis zum bitteren Ende“ in den Technischen Sammlungen Dresden. Foto: Anja Schneider für die TSD

Ausstellung „Bitteres Ende“ in den Technischen Sammlungen Dresden wartet mit Interviews und Geschichten zum VEB Pentacon um 1989 auf

Dresden, 5. Januar 2024. Wer heute mehr will als nur die eingebauten Bildsensoren im omnipräsenten Smartphone und sich eine „richtige“ Kamera kauft, landet eher oder später meist bei den Japanern: bei Canon, Nikon, Sony & Co. Für Liebhaber besonderer Qualitätsfotografie gibt es noch Leica aus Wetzlar – aber das war es dann auch schon mit den deutschen Herstellern, wenn man einmal die Industriekameratechnik beiseite lässt. Dies war vor dem Aufbruch ins Digitalzeitalter ganz anders, da gehörten deutsche Unternehmen zu den führenden Kameraproduzenten weltweit. Dazu zählten die Ernemannwerke und Zeiss Ikon in Dresden, aus denen zu DDR-Zeiten die für ihre Spiegelreflex-Kameras berühmten Pentacon-Werke wurden. Eine Sonderausstellung in der Striesener Pentacon-Betriebsstätte – den heutigen Technischen Sammlungen Dresden – erzählt nun in Zeitzeugen-Berichten vom „Bitteren Ende“ der lange Zeit strukturprägenden Kameraindustrie in Dresden.

Praktica, Modell von ca. 1965, Foto aus: Gerhard Jehmlich: Der VEB Pentacon Dresden

Praktica, Modell von ca. 1965, Foto aus: Gerhard Jehmlich: Der VEB Pentacon Dresden

9 Millionen „Prakticas“ hergestellt

40 Jahre lang stellte der VEB Pentacon Dresden Fotoapparate, Kinogeräte und Diaprojektoren her – bis 1990 dann, exakt am 2. Oktober jenen Jahres, auf Geheiß der Treuhand der Betrieb geschlossen wurde. 1991 wurden Maschinen und Einrichtungsgegenstände von Pentacon in der Gaststätte Goldener Löwe in Freital versteigert.

Da nutzte es nichts, dass die Praktica(-Kamera) in der DDR so legendär war wie Rotkäppchen-Sekt oder Spee-Waschmittel, weil sie eben als Marke nicht nur in die ostdeutschen Haushalte geschafft hatte, sondern auch den Sprung aufs internationale Parkett. Eine Fotokamera für das Volk sollte die Praktica sein. Zwischen 1949 und 1990 verließen rund neun Millionen Stück die Werke in Dresden.

Immer wieder wartete man mit Innovationen auf. Im Dezember 1964 gingen die ersten beiden Fließbänder in Betrieb. Laut ausliegendem Faltblatt bauten die Montiererinnen an den 75 Zentimeter langen Bändern mit einer Fließgeschwindigkeit von 45 Zentimeter pro Minute an 45 Arbeitsplätzen pro Band aus 500 Teilen die Kameras vom Typ Praktica Nova zusammen. 1969 konnte man für die Praktica LLC zwei Weltneuheiten vermelden: elektronische Übertragung des Blendenwerts vom Objektiv zur Kamera und Deckpappen aus Kunststoff. 1970 übernahm Pentacon die bis dahin staatliche Ihagee Kamerawerk AG i.V. und die Produktion der Exakta-Kameras. Im gleichen Jahr verzeichnete Pentacon einen Weltmarktanteil bei Spiegelreflexkameras von zehn Prozent. 1985 wurde der VEB Pentacon dem Kombinat VEB Carl Zeiss Jena angegliedert. Unter dieser neuen Regie produzierte der Betrieb 426.032 Spiegelreflexkameras.  Davon gingen 285.000 in das kapitalistische Ausland und gerade mal 55.144 in die sozialistischen (Bruder-)Länder, der Rest war für den Binnenmarkt bestimmt.

7000 Menschen waren im Pentacon tätig, darunter auch 200 Vertragsarbeiter aus Vietnam

Zu Hochzeiten arbeiteten etwa 7000 Menschen im VEB Pentacon Dresden. Am Ende der DDR waren es noch etwa 5000, die sich nach der Abwicklung des Betriebs nach dem bitteren Ende 1990 neu orientieren mussten. Ab 1980 waren unter den Beschäftigten nach einem entsprechenden Staatsvertrag zwischen der DDR und der Volksrepublik Vietnam über 200 Arbeiter aus Vietnam. 1985 hatte der VEB alles in allem 6128 Mitarbeiter, 14 Prozent von ihnen Mitglieder der Staatspartei SED.

Am 30. Juni 1991 war offiziell der letzte Arbeitstag, lediglich 232 Mitarbeiter erhielten einen neuen Vertrag, ihre vorrangige Aufgabe war nun die Abwicklung der Reste des einstigen Vorzeigebetriebs. Im gleichen Jahr erfolgte übrigens auch die Gründung der Gemeinnützigen Gesellschaft Striesen-Pentacon e.V. zur sozialen Unterstützung u. a. von ehemaligen Pentacon-Beschäftigten. Der Verein besteht bis heute. Ganz wichtiges Datum ist der 25. September 1991: Da wurde für den Aufbau der Technischen Sammlungen im Ernemann-Bau die Pentacon-Gerätesammlung der Landeshauptstadt Dresden übergeben.

Zeitzeuge Ngoc Hanh Dao besucht mit seinem Sohn die Pentacon-Ausstellung "Bis zum bitteren Ende" in den Technischen Sammlungen Dresden. Foto: Anja Schneider für die TSD

Zeitzeuge Ngoc Hanh Dao besucht mit seinem Sohn die Pentacon-Ausstellung „Bis zum bitteren Ende“ in den Technischen Sammlungen Dresden. Foto: Anja Schneider für die TSD

Museum präsentiert Quintessenz aus Zeitzeugen-Interviews

„Bitteres Ende“ – diese Formel taucht immer wieder, in der Regel am Ende, in Interviews auf, die Studenten der TU Dresden mit einstigen Pentacon-Mitarbeitern führten. „Bitteres Ende“ ist entsprechend auch der Titel von einer der beiden aktuellen TSD-Sonderausstellungen. Im Fokus dieser „Langzeitbelichtungen“ stehen Interviews und Geschichten zur Dresdner Fotoindustrie um 1989. Die u. a. von der von der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen und der Ostdeutschen Sparkassenstiftung geförderte Schau ist das Resultat eines Projekts der TSD, des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung sowie des Filmemachers Theo Thiesmeier aus Berlin. Alles in allem 15 Interviews, zumindest dem „Best-Of“ der geführten Gespräche, kann man in dieser in Form einer multimedialen Installation gestalteten Installation lauschen, wobei diese sich auf verschiedene Bereiche verteilen. Manche Monitore sind auf alten Transportwagen montiert, andere auch nicht gerade taufrischen Montagetischen…

Aus DDR- und Pentacon-Zeiten überliefert: An der Wache waren die Betriebsausweise vorzulegen. Heute gehört der Komplex zu An den Technischen Sammlungen Dresden. Foto: Heiko Weckbrodt

Das Schild an der früheren Pentacon-Pforte hängt auch heute noch. Foto: Heiko Weckbrodt

Als Leben und Arbeit noch nicht zweierlei waren

Das Hauptaugenmerk in den Interviews lag auf den Biografien, den sehr unterschiedlichen persönlichen Erfahrungen der beteiligten Zeitzeugen unterschiedlicher Ebenen und Produktionsbereiche, auf dem Ablauf der Ereignisse um die Friedliche Revolution anno 1989 herum, inklusive der wirtschaftlichen Verwerfungen, die in der Schließung des „VEB Pentacon“ im Herbst 1990 und dessen Nachfolgeunternehmen gipfelten. Was TSD-Direktor Roland Schwarz mit am meisten beeindruckt, war „die große Offenheit und Dankbarkeit“ der interviewten Leute und die „große Bedeutung, die Arbeit im Leben“ der Betrieb für die Menschen spielte. In der Tat, die Arbeit war vielleicht nicht ein und alles, aber enorm wichtig im Leben. Die Leute trennten damit Welten von der „Null Bock auf Arbeit“-Mentalität und „Work-Life-Balance“-Gehabe der Generation Z.

Roland Schwarz, Direktor der Technischen Sammlungen Dresden. Foto: Heiko Weckbrodt

Direktor Roland Schwarz vor der restaurierten Zeiss-Ikon-Werbung in Dresden-Striesen. Foto: Heiko Weckbrodt

Männerlastiger Querschnitt

Erstaunlich ist auf alle Fälle auch, dass – warum auch immer – Männer offenbar deutlich mehr Lust hatten, sich in Interviews zu äußern. Frauen stellten laut Roland Schwarz drei Viertel der Belegschaft beim VEB Pentacon, doch unter den Befragten waren letztlich nur wenige Frauen.

Praktica-Konstrukteur Siegfried Böhm (Mitte) mit Laborleiter Werner Kühnel (links) und der wissenschaftliche Mitarbeiter Gerhard Jehmlich erproben eine Praktina, etwa im Jahr 1953. Foto: Privatarchiv, aus: Gerhard Jehmlich: Der VEB Pentacon Dresden

Praktica-Konstrukteur Siegfried Böhm (Mitte) mit Laborleiter Werner Kühnel (links) und der wissenschaftliche Mitarbeiter Gerhard Jehmlich erproben eine Praktina, etwa im Jahr 1953. Foto: Privatarchiv, aus: Gerhard Jehmlich: Der VEB Pentacon Dresden

Wie auch immer: Wie die Leute einst zu Pentacon kamen, aber auch die praktischen Arbeitsbedingungen inklusive Konflikte mit Vertretern der „Partei“ (also der SED), die Organisation des Alltags, Konflikte und Entscheidungen im Umfeld der beruflichen Tätigkeit, dramatische biografische Brüche, auch die erfolgreichen Versuche der Neuorientierung – all das wird ausführlich reflektiert.

Nach der Wende wiederholte sich Zusammenbruch der westdeutschen Kameraindustrie im Zeitraffer in Sachsen

Allerdings führt die Selbstreflexion nur in den seltensten Fällen zur Erkenntnis, dass die ostdeutsche Kamera-Industrie durchmachte, was den westdeutschen Herstellern zehn, zwanzig Jahre früher passiert war, nämlich gegen die Konkurrenz aus Fernost keine Chance zu haben (bis auf die eingangs erwähnte Ausnahme Leica). Mittlerweile schwächeln auch erhebliche Teile der japanischen Kameraindustrie. Jeden Tag werden Millionen Fotos und Filme gemacht, nun aber vorzugsweise mit dem Smartphone und nicht mehr mit einer Old-School-Spiegelreflex-Kamera.

PS: Neben der Sonderausstellung „Bitteres Ende“ solltet man auch noch jene mit dem „Zeitfenster“ in Augenschein nehmen, diese informiert über die Historie der Ernemann-Werke sowie dem Nachfolger in der DDR, dem VEB Pentacon.

Kurzinfos:

  • Ausstellung: „Bis zum bitteren Ende – Langzeitbelichtungen, Interviews und Geschichten zur Dresdner Fotoindustrie 1989“
  • Ort: Technische Sammlungen Dresden, Ecke Schandauer und Junghansstraße in Dresden-Striesen
  • Öffnungszeiten: bis 25. Februar 2024, jeweils Di – Fr 9 bis 17 Uhr, Sa/So/feiertags 10 bis 18 Uhr
  • Eintritt: 5 Euro, Kinder unter 7 Jahren: gratis
  • Mehr Infos unter: www.tsd.de

Autor der Rezension: Christian Ruf

Quelle: Vor-Ort-Besuch, Pressekonferenz, Auskünfte TSD

 

 

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt