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Warum Honecker Ardennes Enteignung revidierte

Manfred von Ardenne. Foto: Mittelstädt, ADN, Bundesarchiv, Wikipedia, CC3-Lizenz

Manfred von Ardenne. Foto: Mittelstädt, ADN, Bundesarchiv, Wikipedia, CC3-Lizenz

Der neue SED-Chef wollte das größte Privatinstitut der DDR vor 50 Jahren eigentlich auch verstaatlichen – und wählte dann doch die bequeme Lösung

Dresden, 8. März 2022. Als eines von ganz wenigen größeren privaten Unternehmungen in der DDR und im ganzen Ostblock entging die Dresdner Forschungseinrichtung von Manfred von Ardenne der letzten großen Verstaatlichungswelle vor 50 Jahren. Und das hatte weniger mit den guten Kontakten des „roten Barons“ nach Moskau zu tun, wie lange vermutet, sondern mit Zuordnungsrangeleien hinter der den Kulissen, wie der frühere Technikdirektor des Instituts, Peter Lenk, nach jahrelangen Recherchen herausbekommen hat. Zwar sei dem Institut schon 1972 der Privatisierungsbefehl erteilt worden. Doch dann habe das Gerangel darum, wer das Institut übernimmt, schier kein Ende genommen. „Das Politbüro hat dann letztlich die bequeme Lösung gewählt“, berichtet Lenk. „Erich Honecker persönlich hat dann unter die Akte geschrieben: Alles bleibt so wie es ist.“

Erich Honecker. Foto: ADN, Bundesarchiv, Wikipedia, CC3-Lizenz

Erich Honecker. Foto: ADN, Bundesarchiv, Wikipedia, CC3-Lizenz

Neuer 1. Sekretär schuf gleich wieder eine Singularität

Damit hatte der neue „Erste Sekretär“ gleich wieder eine Singularität geschaffen, obwohl er gerade eben dem KPdSU-Führungszirkel um Leonid Breschnew versprochen hatte, keine ostdeutschen Extrawürste mehr zu braten. Im Gegenzug durfte er seinen Vorgänger Walter Ulbricht (SED) von den höchsten Ämtern in Partei und Staat entmachten. Und in diesem Zuge verstaatlichte er eben auch die Reste des ostdeutschen Mittelstandes und der hybriden privat-staatlichen Wirtschaftsordnung in der DDR, die dem KPdSU-Führungszirkel um Leonid Breschnew schon länger ein Dorn im Auge war. Aber ein paar „gallische Dörfer“ blieben eben doch übrig: Kleinere private Unternehmungen mit höchstens zehn Mitarbeitern durften weitermachen und wurden mit eisernen Steuer-Daumenschrauben klein gehalten. Ähnliches galt für einige Produktionsgenossenschaften. Und der Enteignungswelle entgingen eben auch einige wenige schwer ersetzbare Forschungseinrichtungen wie die von Manfred von Ardenne in Dresden und von Kurt Schwabe in Meinsberg bei Waldheim.

Lange Tradition gründungsfreudiger Forscher in Deutschland

Beide Institute hatten ähnliche Wurzeln: Schon in der Kaiserzeit und während der Weimarer Republik, aber auch danach gründeten erfolgreiche Wissenschaftler und Ingenieure gerne eigene Forschungsbetriebe, um ihre Erfindungen in bare Münze zu verwandeln. Zudem schätzten diese unternehmungsfreudigen Akteure auch die Möglichkeit, jenseits verkrusteter akademischer und staatlicher Strukturen in eigener Entscheidung ihre Forschungen in die von ihnen als besonders aussichtsreich angesehenen Richtungen voranzutreiben.

Kurt Schwabe 1961 bei seiner Antrittsrede als Rektor der damaligen Technischen Hochschule Dresden. Foto: KSI Meinsberg

Kurt Schwabe 1961 bei seiner Antrittsrede als Rektor der damaligen Technischen Hochschule Dresden. Foto: KSI Meinsberg

Schwabe lavierte sich durch Anbindung an TU Dresden durch die Verstaatlichungswelle

Aus dieser Tradition heraus entstanden auch kurz vor und nach Kriegsende noch Privatinstitute in Ostdeutschland, obwohl die Kommunisten die Signale schon längst auf Staats- und Zentralverwaltungswirtschaft gesetzt hatten. So gründete beispielsweise der Chemie-Professor Kurt Schwabe im sächsischen Meinsberg ein privates Forschungsinstitut für chemische Technologie, das er bald organisatorisch an die TU Dresden andockte. Dieser Umstand sowie Schwabes starke Vernetzung in die SED-dominierte akademische Landschaft der DDR hinein waren vermutlich die entscheidenden Gründe, die sein Institut bis zu seinem Tod 1983 vor der Verstaatlichung retteten – obwohl es damals bereits 240 Beschäftigte hatte und damit deutlich über der ostdeutschen Zehn-Köpfe-Regel für Privatbetriebe lag.

Der Mikroelektronikpionier Werner Hartmann im Jahr 1970. Abb.: Privatarchiv Renee Hartmann/Repro: hw

Der Mikroelektronikpionier Werner Hartmann im Jahr 1970. Abb.: Privatarchiv Renee Hartmann/Repro: hw

Auch ILK und Vakutronik waren „Professoren-Gründungen“

Ebenfalls ursprünglich eine Professoren-Gründung war der spätere Stammbetrieb des ILKA-Kombinats in Dresden: 1959 gründete der Kältetechnik-Professor Heinz Jungnickel in Dresden sein Institut für Chemie- und Kälteausrüstung, aus dem 1964 das Institut für Luft- und Kältetechnik hervorging. Auch der spätere Robotron-Betrieb Vakutronik war ursprünglich als gemeinsamer privater Forschungsbetrieb des Fernseh-Miterfinders Manfred von Ardenne und des späteren DDR-Mikroelektronik-Pioniers Werner Hartmann konzipiert. Die Reihe der Beispiele ließe sich sicher fortsetzen.

Der 16-jährige Manfred von Ardenne präsentierte 1933 eine von ihm verbesserte Braun'sche Röhre - eine Schlüsselkomponente für die Entwicklung des elektronischen Fernsehens. Fotograf unbekannt, Quelle: ADN, Bundesarchiv, Wikipedia, CC3-Lizenz

Der 16-jährige Manfred von Ardenne präsentierte 1933 eine von ihm verbesserte Braun’sche Röhre – eine Schlüsselkomponente für die Entwicklung des elektronischen Fernsehens. Fotograf unbekannt, Quelle: ADN, Bundesarchiv, Wikipedia, CC3-Lizenz

Privatinstitut in der DDR als Belohnung für Stalins Atombombe

Die wohl prominenteste private Forschungsunternehmung in Ostdeutschland und womöglich im ganzen Ostblock war und blieb jedoch eben das „Forschungsinstitut Manfred von Ardenne“. Nachdem der Mitarbeit an Stalins Atombombe und seiner Rückkehr aus der Sowjetunion hatte der Baron dieses Institut auf dem Weißen Hirsch in Dresden gegründet. In den Folgejahren machte sich diese Einrichtung als Forschungspartner für viele Staatsbetriebe unentbehrlich, trieb auch eigene Projekte zur Elektronstrahl- und Plasmaprozessen, Beschichtungstechnologien und Medizintechnik voran und erlangte zunehmend auch einen guten internationalen Ruf. Allerdings hatte das Institut vor dem Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker bereits eine Belegschaftsstärke von über 400 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen erreicht. Damit lag es noch deutlicher als Schwabes Privatinstitut über dem Rasenmäher-Limit der SED für eine auch weiter geduldete kleinteilige Privatwirtschaft.

Rainer Karlsch. Foto: Heiko Weckbrodt

Rainer Karlsch. Foto: Heiko Weckbrodt

Auch Volkskammer-Sitz und Moskau-Verbindung schützten Ardenne nicht

Obwohl die Innovationskraft des Instituts also gebraucht wurde und der Baron gute Kontakte nach Berlin und Moskau pflegte, ab 1963 sogar als Kulturbund-Abgeordneter in der Volkskammer – dem offiziellen DDR-Parlament – saß, wollten die SED-Wirtschaftslenker auch Ardenne 1972 enteignen. Ardenne hatte den Kommunisten zunächst als Kompromiss eine Stiftungslösung vorgeschlagen, heißt es in der Studie „Industrielle Familienunternehmen in Ostdeutschland“ von Dr. Rainer Karlsch und Dr. Michael Schäfer. „Als diese ausgeschlagen wurde, war er gezwungenermaßen bereit, eine staatliche Beteiligung aufzunehmen.“

Peter Lenk war ab 1971 Direktor für Technik und Ökonomie in Ardennes Privatinstitut und gründete nach der Wende die Ardenne Anlagentechnik aus. Die Archivaufnahme von 2018 zeigt ihn im Lingnerschloss, dessen Sanierung er seit Jahren organisiert. Foto: Heiko Weckbrodt

Peter Lenk war ab 1971 Direktor für Technik und Ökonomie in Ardennes Privatinstitut und gründete nach der Wende die Ardenne Anlagentechnik aus. Die Archivaufnahme von 2018 zeigt ihn im Lingnerschloss, dessen Sanierung er seit Jahren organisiert. Foto: Heiko Weckbrodt

„Die Papiere waren schon unterschrieben“

„Er hatte die Papiere dafür schon unterschrieben und wir haben dann ein Jahr lang die Verstaatlichung vorbereitet“, erinnert sich Peter Lenk, der 1971 gerade „Direktor für Technik und Ökonomie“ im Ardenne-Institut geworden war. „Irgendwann 1973 hat uns der Chef dann aber plötzlich alle im Hof zusammengerufen und verkündet: Wir bleiben privat. Das war für uns alle eine Sternstunde. Das Warum hat er uns aber nie verraten.“

Plötzlich die unfassbare Nachricht: „Es bleibt alles beim Alten“

Ähnlich ging es auch dem Sohn des Barons: „Tatsächlich wurde die Verstaatlichung von den zuständigen SED-Funktionären mit aller Intensität betrieben“, erinnert sich Alexander von Ardenne. „Nur wenige Tage nach Abschluss der Verstaatlichung kam die unfassbare Nachricht „es bleibt alles beim Alten“. Bis heute wissen wir nicht, wer diese Entscheidung getroffen hat.“

Telefonat nach Moskau war wohl ein Mythos

Lenk, der nach der Wende unter anderem das erfolgreiche Industrieunternehmen „Von Ardenne Anlagentechnik“ aus dem freiherrlichen Institut ausgründete und später begann, das Lingnerschloss wieder aufzubauen, ist zwar inzwischen im Rentenalter. Aber seinen Unruhestand hat er für Recherchen genutzt – und die haben laut seinem Bekunden die Ursachen für die Kehrtwende 1973 zutage gefördert: „Viele haben ja gemutmaßt, dass Ardenne einflussreiche Freunde in Moskau angerufen hat“, weiß der frühere Ardenne-Manager. „Auch glauben viele, Honecker habe nicht das ausdrückliche Versprechen von Ulbricht und den Russen brechen wollen, dass Ardenne hier sein Privatinstitut bekommt und zu seinen Lebzeiten auch behalten darf, wenn er sich für die DDR entscheidet. Doch das sind alles Mythen.“

Zuordnungsgerangel zwischen Akademie und Kombinaten

Laut Lenk konnten die Funktionäre in Berlin keine konsensfähige Lösung finden, wem das dann verstaatlichte Ardenne-Institut zugeordnet werden sollte: Von den Erfindungen und Produkten des Ardenne-Instituts hingen damals zehn Kombinate ganz unterschiedlicher Branchen in der DDR ab. „Die rechneten alle mit unseren Anlagen“, so Lenk. Dadurch sei wohl ein Streit darüber entbrannt, wer das begehrte Unternehmen nach der Enteignung bekommen sollte. Zur Debatte stand auch, das Ardenne-Institut in ein Wissenschaftlich-Technisches Zentrum (WTZ) umzuwandeln. Aber auch darüber konnten die Wirtschaftsbürokraten keine Einigung erzielen.

Die Akademie der Wissenschaften der DDR wiederum wollte das Institut nicht haben. Dabei spielten womöglich zwei Faktoren eine Rolle: Ardennes Institut agierte sehr wirtschaftsnah, die Akademie-Institute wiederum verschrieben sich zumeist eher der Vorlaufforschung. Hinzu kamen möglicherweise auch persönlich Animositäten der Akademiker gegen den eigensinnigen Ardenne, der zudem nie ein Abitur abgelegt hatte – also „gar nicht richtig“ zur akademischen Gilde dazugehörte. Angesichts der Endlos-Streitereien habe dann eben Erich Honecker persönlich angeordnet, alles beim Alten zu belassen.

Roter Baron wurde „unter Ulbricht hofiert“ und behauptete sich auch unter Honecker

Dies sollte sich in den Folgejahren auch bezahlt machen: Wie schon vor dem Machtwechsel verstand es der Baron, sich im SED-Staat schwer ersetzbar zu machen. „Manfred von Ardenne wurde in der Ulbricht-Ära geradezu hofiert und konnte sich auch unter Honecker behaupten“, schätzt der Historiker Gerhard Barkleit ein. Der „rote Baron vom Weißen Hirsch“, wie der Forscher vom Elbhang gelegentlich im Volksmund genannt wurde, hatte für die kommunistische Staats- und Parteiführung sowohl wirtschaftliche wie auch ideelle Vorteile: Der auf Reputation im Westen begierige Honecker beispielsweise nutzte Ardenne gern als eine Art Aushängeschild gen BRD, um zu zeigen, dass man auch als Adliger in der DDR etwas werden konnte und wie forschungsstark der SED-Staat doch sei. Andererseits blieb das weiter private Institut so ein wichtiger und innovationsstarker Forschungspartner für die zentralwirtschaftlich gelenkte DDR-Industrie. Die Ardenne-Kollektive entwickelten beispielsweise eine eigene Herz-Lungen-Maschine für die DDR, metallische Aromaschutz-Beschichtungen für Kaffeetüten und dergleichen mehr. Und das Privatinstitut durfte sogar weiter Spezialisten einstellen und wuchs so auf über 500 Beschäftigte.

„Wir hatten große finanzielle Probleme“

Nach der Wende fiel das Institut durch seine singuläre Rolle auch wieder etwas aus dem Raster: „Da wir mit 500 Mitarbeitern das einzige große private Institut in der DDR und vermutlich im Ostblock waren, standen wir außerhalb der gesetzlichen Unterstützungs-Maßnahmen der Bundesrepublik“, betont Alexander von Ardenne. „Wir hatten große finanzielle Probleme.“

Rolle-zu-Rolle Folieninspektionssystem am Fraunhofer-Elektronenstrahlinstitut FEP. Foto. Fraunhofer-IWS Dresden

Ein Teil der Ardenne-Forscher gehörte nach der Wende zum Gründungspersonal für das Fraunhofer-Institut für Elektronenstrahl- und Plasmatechnik in Dresden. Hier im Archivfoto mustert eine Mitarbeiterin ein Rolle-zu-Rolle-Folieninspektionssystem im Institut. Foto. Fraunhofer-IWS Dresden

„Spielgeld“ verwandelte sich über Nacht in Schuldenberg von 15 Millionen D-Mark

Diese Probleme hingen auch mit den staatlich vorgegeben Abrechnungssystemen in der DDR-Volkswirtschaft zusammen, deren Saldi mit der Währungsunion plötzlich in echte Schulden in West-Mark umgemünzt worden waren. Außerdem fielen mit dem durch die Währungsunion über Nacht ausgelösten Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie und dem Wegfall der Kundschaft im Ostblock schlagartig die meisten Aufträge weg. „Die Wende empfand Manfred von Ardenne als Katastrophe für sein Institut, da die meisten Industrieaufträge entfielen und auch die bisherige Finanzierung durch die DDR-Ministerien endete“, heißt es in der Studie von Karlsch und Schäfer. Dies sei ein DDR-typisches Problem gewesen: „Der hohe Lagerbestand von Ausgangsmaterialien und Ersatzteilen, wurde zur Schuldenfalle. In der Mangelwirtschaft waren Betriebe ohne gehortete Vorräte nicht handlungsfähig, doch nach der Währungsunion tendierte der Wert dieser Bestände gegen Null, was aber nicht für die Kredite galt. Mit einem Schlag lasteten auf der Familie Altschulden in Höhe von 15 Millionen DM. Zwei Drittel der etwa 500 Mitarbeiter mussten entlassen werden.“

Anlagen wie die "Pia Nova" der Dresdner "Von Ardenne" beschichten Dünnschicht-Solarzellen. Abb.: Von Ardenne

Das Unternehmen „Von Ardenne“ gründete sich nach der Wende aus dem Ardenne-Institut aus und hat sich auf den Anlagenbau spezialisiert. Abb.: Von Ardenne

Ardennes Hausgeist setzte sich durch

Eingedenk der ununterbrochenen Tradition als privates Familienunternehmen, das seit jeher gewohnt war, Gewinne zu erwirtschaften und sich über Wasser zu halten, zeichneten sich dann aber doch Lösungen ab. „Der Hausgeist, der Zusammenhalt und die Opferbereitschaft, die wir bei Ardenne entwickelt hatten, die haben sich auch in dieser Situation bewährt“, meint Peter Lenk. Letztlich sei es gelungen, neue unternehmerische Strukturen zu schaffen, die Schulden zu bezahlen und einem Teil der Mitarbeiter neue Perspektiven zu eröffnen. Rund 80 Beschäftigte aus der Belegschaft bildeten den Grundstock für das neue „Fraunhofer-Institut für Elektronenstrahl- und Plasmatechnik“ (FEP) in Dresden. Ein 30-köpfiges Team setzte die medizinischtechnischen Aktivitäten fort – das heutige „Von Ardenne Institut für Angewandte Medizinische Forschung“. Und ein Ingenieurteam unter Lenk gründete die „Von Ardenne Anlagentechnik“, die inzwischen auf 930 Mitarbeiter und rund 280 Millionen Euro Jahresumsatz gewachsen ist.

Autor: Heiko Weckbrodt

Quellen: Interview Peter Lenk, Auskunft Alexander v. Ardenne, Oiger-Archiv, Dr. Rainer Karlsch und Dr. Michael Schäfer: „Industrielle Familienunternehmen in Ostdeutschland“, VHKK, Gerhard Barkleit: Werner Hartmann, Wikipedia, Von Ardenne GmbH, DNN

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt