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Aufstieg und Fall des Mikroelektronik-Pioniers Werner Hartmann

Der Physiker und Mikroelektronik-Pionier Werner Hartmann im Jahr 1968. Foto: Hans Becker, Technische Sammlungen Dresden

Der Physiker und Mikroelektronik-Pionier Werner Hartmann im Jahr 1968. Foto: Hans Becker, Technische Sammlungen Dresden

Biografie erzählt, warum der parteilose „Spezialist“ in der DDR erst als Star hofiert und dann verfemt wurde

Dresden. Er gilt als Vater der ostdeutschen Mikroelektronik, arbeitete an der sowjetischen Atombombe mit, war DDR-Nationalpreisträger 2. Klasse – nur um wenig später in Ungnade zu fallen. Den Rest seines Lebens fristete er verfemt und abgeschoben auf einem drittrangigen Posten in einem Erzgebirgstal. Die Rede ist vom Physiker Werner Hartmann (1912-1988), der vor 110 Jahren in Berlin geboren wurde und kurz vor der Wende in Dresden starb. Aus diesem Anlass hat Gerhard Barkleit eine Biografie des DDR-Halbleiterpioniers verfasst und nun veröffentlicht.

Forschen mit Hertz und Atombomben-Bau für Stalin

In „Werner Hartmann – Wegbereiter der Mikroelektronik in der DDR“ skizziert der Historiker und studierte Physiker Barkleit zunächst den Lebensweg des Wissenschaftlers: Erste Sporen verdiente sich Hartmann unter Gustav Hertz und später in der Fernseh GmbH. In der Nazi-Zeit war er ein politisch mäßig interessierter Mitläufer. Nach dem Krieg schlüpfte er freiwillig in Stalins „Goldenen Käfig“ am Schwarzen Meer und half als einer von Hunderten deutschen „Spezialisten“ bei der Entwicklung der sowjetischen Atombombe. Schon damals in Russland vereinbarte er mit dem Fernseherfinder Manfred von Ardenne, in der DDR ein Privatunternehmen für Vakuumtechnik und kernphysikalische Messtechnik zu gründen. Als es soweit war, entfremdeten sich Hartmann und Ardenne dann allerdings – ein Gemisch aus Eitelkeiten, beidseitigem Ehrgeiz und Sturheit spielte dabei eine Rolle. Letztlich entstand aus der gemeinsamen Idee der VEB Vakutronik, den Hartmann bis Anfang der 1960er Jahre ziemlich erfolgreich leitete.

Der sowjetische Diktator Joesef Stalin. Foto: ADN, Bundesarchiv, Wikipedia, cc3-Lizenz

Der sowjetische Diktator Joesef Stalin. Foto: ADN, Bundesarchiv, Wikipedia, cc3-Lizenz

Hartmann goss ab 1961 die Fundamente für das heutige „Silicon Saxony“

Danach begann das Kapitel, das Hartmann zu einer Schlüsselperson für die ostdeutsche und die sächsische Wirtschaftsgeschichte bis in die Gegenwart hinein machte: Ab Herbst 1961 zog er sich nämlich immer mehr aus dem operativen Vakutronik-Geschäft zurück und baute die „Arbeitsstelle für Molekularelektronik“ (AME) in Dresden-Klotzsche auf – dort, wo kurz zuvor die Düsenflieger-Träume der SED-Führung geplatzt waren. Damit begann die Entwicklung und Produktion eigener integrierter Schaltkreise in der DDR. Die AME wuchs in den Folgejahren zunächst rasch, firmierte unter wechselnden Kürzeln wie AMD, IMD, ZFTM und dann ZMD. Das wichtigste DDR-Mikroelektronik-Forschungszentrum bekam schließlich auch eine eigene Chipfabrik. Hier kopierten Ingenieure und Wissenschaftler zunächst West-Chips nach, entwickelten dann auch zunehmend originäre DDR-Schaltkreise und realisierten später Prestigeprojekte für Honecker wie den ostdeutschen Megabit-Chip. Letztlich goss Hartmann dort in jahrelanger stringenter Arbeit die Fundamente für das heutige „Silicon Saxony“, für den Aufstieg Sachsens zu einem führenden Mikroelektronik-Standort in Europa.

Der Mikroelektronikpionier Werner Hartmann im Jahr 1970. Abb.: Privatarchiv Renee Hartmann/Repro: hw

Der Mikroelektronikpionier Werner Hartmann im Jahr 1970. Abb.: Privatarchiv Renee Hartmann/Repro: hw

Von Spitzeln und Neidern umgeben

Doch zurück in die 1960er und 70er: Trotz beachtlicher Erfolge, die Hartmann und seine Teams bei ihrer Aufholjagd erzielten, hinkte die ostdeutsche Halbleiterbranche weiter auf Jahre hinter dem Stand in den USA und in Japan hinterher. Die Gründe dafür waren zwar vor allem im Versagen der DDR-Zentralverwaltungswirtschaft und der weitgehend gescheiterten Arbeitsteilung im RGW-Wirtschaftsraum zu suchen. Doch das wollten weder SED noch Stasi wahrhaben, Und so flochten Intriganten aus diesem unbestreitbaren Rückstand dem parteilosen AMD-Chef ganz langsam einen Strick, vermengen dies mit unhaltbaren Spionage-Vorwürfen und allerlei vorgeschobenen Anschuldigungen von Denunzianten, Spitzeln und Neidern aus dem Umfeld von Hartmann.

Der ostdeutsche Megabit-Chip vom ZMD. Abb.: hw

Der ostdeutsche Megabit-Chip vom ZMD. Abb.: hw

Stasi konnte fixe Spionagevorwürfe nie beweisen – erledigte Hartmann aber dennoch

Auslöser der Kettenreaktion im Juni 1974 war dann der gescheiterte Fluchtversuch des Hartmann-Mitarbeiters I. Eine lange Gefängnisstrafe vor Augen, schob der Gefangene seinem Chef alles in die Schuhe, was die Stasi ihm an Steilvorlagen anbot: Hartmann habe als „sozialistischer Leiter“ versagt, so der Tenor der Vorwürfe, habe immer wieder an Partei, Sozialismus und die Sowjetunion herumkritisiert. Womöglich habe er sogar absichtlich den Rückstand der DDR in der Mikroelektronik herbeigeführt. Zwar verzichtete die Stasi mangels greifbarer Spionagebeweise letztlich auf eine Anklage gegen Hartmann. Doch der parteilose Physiker war danach in der DDR beruflich erledigt. Er bekam Hausverbot in seinem Institut, wurde auf einen kleinen Schreibtischposten nach Muldenhütten versetzt, wo er Verbesserungsvorschläge schreiben durfte, für deren Realisierung ohnehin kein Geld da war.

Manfred von Ardenne. Foto: Mittelstädt, ADN, Bundesarchiv, Wikipedia, CC3-Lizenz

Manfred von Ardenne. Foto: Mittelstädt, ADN, Bundesarchiv, Wikipedia, CC3-Lizenz

Warum lief es für Hartmann anders als für Ardenne?

Neben diesem „äußeren“ Geschehen geht Barkleit in der Biografie auch der interessanten Frage nach, warum Hartmann als Ausgestoßener endete, während sich sein zeitweiliger Weggefährte Manfred von Ardenne bis zum Untergang der DDR als privater Forscher und Unternehmer im SED-Staat behaupten konnte. Als Quintessenz der Analyse mag man festhalten: Der Fall des einst hochgejubelten Forschers hatte einerseits systemische, anderseits persönliche und zufällige Gründe. So hing Hartmanns gesellschaftliche „Vernichtung“ unter anderem mit der gewachsenen Durchherrschung und Transformation der DDR-Gesellschaft zusammen. Seine Position als Parteiloser auf einem prominenten Chefposten war für die Staatspartei eben nur solange akzeptabel, wie sie den „bürgerlichen Spezialisten“ zu brauchen glaubte. Noch unter Walter Ulbricht wurden die aus der Sowjetunion zurückgekehrten deutschen „Spezialisten“ wie eben von Ardenne, Baade oder Hartmann regelrecht hofiert. In dieser Phase galten sie für den Aufbau der neuen sozialistischen Wirtschaft als noch nicht ersetzbar. Doch das änderte sich in der Ära Honecker: Da waren bereits ganze Generationen junger, systemtreuer und ehrgeiziger DDR-Wissenschaftler herangewachsen, die nun im Konsens mit der SED-Führung die angeblich „reaktionären“ Spezialisten der alten Garde verdrängten.

Erich Honecker. Foto: ADN, Bundesarchiv, Wikipedia, CC3-Lizenz

Erich Honecker. Foto: ADN, Bundesarchiv, Wikipedia, CC3-Lizenz

Neue Prioritäten in der frühen Ära Honecker: Mikroelektronik hintenan gestellt

Zudem setzte der neue Partei- und Staatschef Erich Honecker mit seiner „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ andere Schwerpunkte als sein Vorgänger Walter Ulbricht. Da das Politbüro die Investitionen in Hochtechnologien wie Mikroelektronik und Computertechnik ohnehin zusammengekürzt hatte, erschien ein ungeduldiger und zudem noch parteiloser Pionier wie Werner Hartmann jetzt umso entbehrlicher. Diesen Kurs revidierte Honecker zwar ab 1976/77 wieder – doch da war Hartmann schon weg vom Fenster.

Am Ende fehlten die helfenden Netzwerke

Hinzu kamen einige individuelle Eigenheiten Hartmanns: Er wünschte sich eine steile Karriere, hielt sich für unersetzbar, genoss ein sehr privilegiertes Leben mit exorbitanten Gehältern und Autozuweisungen in der DDR. Dabei machte er sich immer abhängiger von der Gunst der SED. Doch den ideellen Preis dafür wollte er nicht zahlen, glaubte als „Unpolitischer“ schon irgendwie durch die Maschen der kommunistischen Netze schlüpfen zu können. Anders als viele Forscher mit ansonsten parallelen Lebenswegen wollte er sich nicht mit einem komfortablen akademischen Posten in der zweiten Reihe begnügen, sondern wie ein Privatunternehmer selbstbestimmte Entscheidungen treffen. Das traf zwar auch für Manfred von Ardenne zu. Doch der vergaß eben nie, „des Königs Hut zu grüßen“, ließ sich gar in die Volkskammer wählen.

Hartmann und Chruschtschow 1959 auf der Leipziger Messe. Abb.: BStU

Hartmann und Chruschtschow 1959 auf der Leipziger Messe. Abb.: BStU

Balance zwischen Gönnern und Neidern verschlechterte sich immer mehr

Hartmann dagegen gelang es auf Dauer nicht, ähnlich hilfreiche und stabile Netzwerke bis ganz nach oben aufzubauen wie der „Rote Baron“. Und so verschob sich die Balance zwischen Gönnern und Neidern in den 1970er Jahren immer mehr zu Ungunsten von Hartmann: Sein Bonus als einer von Stalins nuklearen Handlangern war irgendwann verbraucht, seine Bekanntschaft mit Nikita Chruschtschow nützte ihm in der Breschnew-Ära auch nichts mehr. Sein wichtigster Protektor Erich Apel ganz oben hatte sich bereits 1965 erschossen. Der wissenschaftsbegeisterte Walter Ulbricht wurde von Erich Honecker abgesägt, dem die Mikroelektronik in seinen ersten Herrschaftsjahren nachrangig galt. Derweil intrigierten Stasi und ein von Hartmann brüskierter Parteisekretär zunehmend gegen den parteilosen Physiker. Und in der Zwischenzeit hatte sich auch der cholerische Günter Mittag wieder nach oben an die Spitze der Wirtschaftsführung gearbeitet. Und so kam eben eines zum anderen. Womöglich, so mutmaßt Barkleit, ging die Intrige gegen Hartmann letztlich von Mittag aus – Beweise dafür kann aber auch er nicht vorlegen.

„Er setzte sich selbst Grenzen“

Dass Hartmann am Ende kaum noch einflussreiche Freunde hatte, die seinen Fall aufhalten konnten und wollten, war wohl mehr als bloßes Pech: „Sein bedeutendes Wirken bei uns in der DDR hätte noch größer und für ihn befriedigender sein können, aber er setzte sich selbst Grenzen“, formulierte Manfred von Ardenne 1988 in seinem Kondolenzschreiben an Hartmanns Witwe Renée. Weniger diplomatisch ausgedrückt: Hartmann agierte manchmal wie ein Sturkopf, neigte gelegentlich zu Selbstüberhöhung, schlug Parteifunktionäre und potenzielle Verbündete vor den Kopf. Am Ende hatte er womöglich einfach zu vielen Leuten in der DDR irgendwann einmal gegen das Schienbein getreten, um im Krisenfall von ihnen Hilfe zu bekommen. Zwar hatte er große Teile seines Ingenieur- und Wissenschaftlerteams hinter sich – doch die hatten eben nicht das Sagen.

Fazit: Ganzheitlicher Blick auf Hartmann

Obgleich der Lebensweg und Fall von Werner Hartmann schon oft thematisiert worden sind, war eine quellennahe, umfassende Biografie längst überfällig: Autor Gerhard Barkleit hat dafür den Hartmann-Nachlass und Archivalien ausgewertet, die Witwe und Mitstreiter des Mikroelektronik-Pioniers befragt, Bücher, Zeitschriftenartikel und auch viele unveröffentliche Quellen gesichtet. Das nun vorgelegte Buch zeichnet ein viel klareres, ganzheitliches Bild des Menschen, Forschers und Machers Werner Hartmann, als es bisherige Publikationen vermochten – wenngleich mit etwas viel eingestreuten Exkursen. Mancher Zusammenhang wird erst in dieser Gesamtschau deutlich: Etwa, was eigentlich hinter den ersten Stasi-Operationen unter dem Codenamen „Tablette“ gegen Hartmann in den 195ern steckte. Und wie diese und andere Ermittlungen, wenngleich immer weitergehend ergebnislos beendet, im MfS kumulativ den „Gesamtverdacht“ gegen Hartmann genährt haben könnten. Ergänzt wird die Hartmann-Biografie im Übrigen durch eine Vita der Hartmann-Witwe Reneé, zahlreiche Kurzvitas wichtiger Protagonisten jener Zeit, ein Personenregister und ein Quellenverzeichnis im Anhang.

Titelbild der Werner-Hartmann-Biografie von Gerhard Barkleit. Repro: Duncker & Humblot

Titelbild der Werner-Hartmann-Biografie von Gerhard Barkleit. Repro: Duncker & Humblot

Kurzüberblick:

Gerhard Barkleit: „Werner Hartmann – Wegbereiter der Mikroelektronik in der DDR“, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2022, 22 Tabellen, 36 Abbildungen, 271 Seiten, ISBN und Preis Papierausgabe: ISBN 978-3-428-18446-0, 50 Euro, E-Buch: ISBN 978-3-428-58446-8, 45 Euro

-> Eine Leseprobe ist hier zu finden

Autor der Rezension: Heiko Weckbrodt

Zum Weiterlesen:

Vom Pionier zum Paria: Werner Hartmann

60 Jahre Mikroelektronik in Dresden

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt