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Fotothek digitalisiert Deutschlands fotokulturelles Erbe

Frau mit Luftballon in Leipzig von  Mahmoud Dabdoub aus dem Bestand der Deutschen Fotothek. Repro: CR

Frau mit Luftballon in Leipzig von Mahmoud Dabdoub aus dem Bestand der Deutschen Fotothek. Repro: CR

Schatzkammer der Lichtbilder feiert in Dresden 100. Jubiläum

Dresden, 31. Januar 2024. Die Deutsche Fotothek feiert dieses Jahr in Dresden ihr 100-jähriges Bestehen mit einem umfangreichen Ausstellungs- und Vortragsreigen. Was 1924 in Chemnitz als Sächsische Landesbildstelle begann, gehört heute zur Sächsischen Landes- und Unibibliothek (SLUB) in Dresden – und hat sich zu einer universal ausgerichteten Institution in Sachen Bild- und Filmarchiv entwickelt: Heute ist die Deutsche Fotothek mit rund sieben Millionen Medien eines der bedeutendsten Bildarchive in Europa. Mit ihrem Archiv der Fotografen ist sie ein zentraler Ort für die Bewahrung, Erforschung und Vermittlung des fotografischen Erbes in Deutschland, schätzt SLUB-Direktorin Katrin Stump ein.

Landesbildstelle entstand 1924 in Chemnitz

Die Anfänge reichen auf den 18. Mai 1924 zurück: An diesem Tag entstand der „Sächsische Landesverband zur Förderung des Bild- und Filmwesens“ eine „Landesbildstelle“. Der damalige Verbandschef und Pädagoge Fritz Schimmer gab als Zielvorgabe „die planmäßige Förderung des Steh- und Laufbildes und der ergänzenden Hilfsmittel in der Erziehungs- und Bildungsarbeit jeder Art, gemeinsam mit amtlichen und privaten Stellen sowie mit den Hersteller“ aus. Am 6. November 1924 vereinbarten Schimmer und das Ministerium für Volksbildung in Dresden dann, in Chemnitz eine „Sächsische Landesbildstelle“ zu gründen. Sie sollte für das Ministerium beim Einsatz von Fotografie und Film im Unterricht beraten, Bezirksbildstellen einrichten und ein Archiv mit den für den pädagogischen Einsatz geeigneten Fotos und Filmen aufbauen.

Fokus lag zunächst auf Sachsen

Doch schon Anfang 1925 zog die neue Landesbildstelle in die Landeshauptstadt um. In Dresden bezog sie ihre Geschäftsräume in der Großen Meißner Gasse 15 bezogen und begann, systematisch Negative zu sammeln. 1926 folgte ein Umzug in die Zirkusstraße 28 in das Hofgebäude der ehemaligen „Tierärztlichen Hochschule Dresden“, berichtet Fotothek-Vizechefin Simone Fleischer. Im April 1926 wurde Walter Möbius als erster Fotograf der Sächsischen Landesbildstelle angestellt. Seine Bilder machten den Hauptteil der Negativsammlung aus, wobei Möbius’ Schwerpunkt auf der fotografischen Landesaufnahme lag.

2,3 Millionen Bilder in der Online-Datenbank

Heute ist die Fotothek vor allem ein zentraler Ort für die Bewahrung, Erforschung und Vermittlung des deutschen fotografischen Erbes. Und sie hat „eine Vorreiterrolle bei der Digitalisierung und Langzeitarchivierung von Bildmedien“ übernommen, meint SLUB-Chefin Katrin Stump. Mittlerweile sind in der Online-Datenbank deutschefotothek.de rund 2,3 Millionen Bilder frei recherchierbar. Sie verzeichnet jährlich rund 500.000 Besucher, acht Millionen Seitenaufrufe und knapp eine Million Downloads.

Seit Dekaden diskutiert Deutschland über ein „Institut für Fotografie“ – die Fotothek handelt längst

Insofern erfüllt die Deutsche Fotothek längst zahlreiche Aufgaben, die weit über Sachsen hinausgehen. „Seit Jahrzehnten wird über ein bundesdeutsches Institut für Fotografie diskutiert. Die Deutsche Fotothek gehört zu jenen Institutionen im Land, die nicht nur reden, sondern auch handeln“, betont Anna Gripp, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Photographie (DGPh) und Sprecherin des Deutschen Fotorats: „Wichtige Vor- und Nachlässe werden übernommen und aufgearbeitet und in Ausstellungen und Publikationen vermittelt. Und mit dem Archiv der Fotografen zeigt die Deutsche Fotothek auch virtuell den Reichtum unseres fotokulturellen Erbes.“ Der neueste Nachlass kam übrigens von Matthias Creutziger: Der renommierte Fotograf insbesondere im Klassik- und Jazzbereich übergab der Fotothek seine „gesammelten Werke“, inklusive der wichtigen Negative.

„Absichtsvoll zielloses Schlendern“

Zum Jubiläum werden fotografische Positionen aus dem Archiv der Fotografen in vier Ausstellungen unter Hashtags vorgestellt, die auch die Deutsche Fotothek selbst beschreiben: #Mittendrin, #Bunt, #Modern und #Intensiv. Die Auswahl spiegelt das breite Spektrum dessen, was Fotografie ist: Dokumentation, Kunst, Reportage, Werbung und Experiment – mit bekannten Namen und solchen, die neu oder wieder zu entdecken sind. Pro Schau werden Aufnahmen von jeweils drei Fotografen präsentiert. Den Auftakt macht die Ausstellung „Mittendrin, in der Werke von Rudi Meisel, Mahmoud Dabdoub und Christian Borchert in Augenschein genommen werden können. Die Präsentation folgt dem „Gedanken des städtischen Flanierens“, erklärt Kuratorin Agnes Matthias. Auf der Texttafel zu Meisel wird vermerkt: „Das absichtsvoll ziellose Schlendern mit der Kamera durch Straßen, über Plätze und Brücken, entlang von Fassaden und Schaufenstern beschert die beiläufige Beobachtung, die zufällige Begegnung, die nicht kalkulierte Konstellation als Facetten der Street Photography.“

Stadtraum aus Straßenbahn-Perspektive

Zu Christian Borchert, der 1942 in Dresden geboren wurde und im Jahr 2000 starb, wird auf einer Texttafel u.a. vermerkt, dass er gern in großen Serien arbeitete, dabei auch den Wiederaufbau der Semperoper dokumentierend, oder auch gern aus der Straßenbahn heraus Alltagsszenen ablichtete, „Situatives auf der Straße interessierte ihn, ebenso Atmosphärisches wie die Nacht oder ein Regentag“. Bekannt wurde er nicht zuletzt durch Porträt-Serien von Schriftstellern und Künstlern wie auch Langzeitstudien anhand von Familienbildern.. Fotografie sollte für Borchert „entsprechend“ sein, sodass „andere – jetzt oder später oder an fremden Orten – sich eine Vorstellung machen können von Situationen und Verhältnissen. Es ist Fotografie gegen das Verschwinden.“ Insofern verstand sich Borchert als ein Chronist, der genau beobachtete – und dabei doch mehr mit der Kamera festhielt, als tatsächlich sichtbar war.

Platz der Einheit in Dresden. Foto Christian Borchert aus dem Bestand der Deutschen Fotothek. Repro: CR

Platz der Einheit in Dresden. Foto Christian Borchert aus dem Bestand der Deutschen Fotothek. Repro: CR

Großteil des fotografischen Werks von Christian Borcherts gesichert

Seit Mitte der 1970er Jahre frei arbeitend, ging er gleichermaßen dokumentarisch wie konzeptuell vor. So entstanden, wie auf einer Texttafel versichert wird, „Beobachtungen des Flüchtigen, gekennzeichnet von leisem Humor und Zugewandtheit, aber auch einer gewissen Melancholie“. Sensibler Beobachter seiner Gegenwart, habe Borchert immer auch nach den Spuren und Zeichen der Vergangenheit gesucht. Nach dem frühen Tod Christian Borcherts im Jahr 2000 in Berlin konnte die Deutsche Fotothek mit circa 230.000 Schwarzweiß-Negativen, 18.000 Arbeitsabzügen sowie rund 2300 Kleinbilddias den Großteil seines Nachlasses erwerben, der zum Gründungsbestand des Archivs der Fotografen zählt. Weitere Werke bewahren die Berlinische Galerie in Berlin und das Dresdner Kupferstich-Kabinett.

Mahmoud Dabdoub: Vom Libanon nach Leipzig

Zu Mahmoud Dabdoub wäre zu vermerken, dass er 1958 im palästinensischen Flüchtlingslager Al Jalil bei Baalbek im Libanon geboren wurde 1981 nach Leipzig kam, um dort Kunst zu studieren. Im Libanon hatte er als überaus begabter Amateur die Situation der Palästinenser fotografiert. Die Resonanz, auf die diese Bilder bei einer Ausstellung im Herder-Institut stießen, wo er einen Sprachkurs absolvierte, führte 1982 letztlich zur Aufnahme an die Leipziger Hochschule. Fotografie war für Mahmoud Dabdoub ein Mittel, sich Leipzig als gänzlich neue Umgebung zu erschließen. Mit der Kamera in der Hand gelang ihm die Annäherung an die Stadt und die Kontaktaufnahme zu ihren Bewohnern – mit dem Vorbild Henri Cartier-Bresson und dessen vom Humanismus geprägten fotografischem Ansatz vor Augen.

Bis 1990 entstanden über 15.000 Aufnahmen, unermüdlich muss der Fotograf die Straßen durchstreift und belebte Orte wie den Hauptbahnhof oder Geschäftspassagen aufgesucht haben. Es ist der Alltag, den Dabdoub in Bildern einfängt, die in ihrer kompositorischen Verdichtung über den Moment hinausweisen und heute doch zum Zeitdokument für die letzten Jahre der DDR geworden sind.

Die zur Dunkelkammer gewandelte Schatzkammer der Slub. Foto: Christian Ruf

Die zur Dunkelkammer gewandelte Schatzkammer der Slub. Foto: Christian Ruf

Schatzkammer mutiert zur Dunkelkammer

Der Reiz analoger Prozesse und die Vielfalt fotografischer Materialien als Fundament der Sammlung sind ebenso Thema weiterer Ausstellungen wie die Entwicklung der Institution im Verlauf von 100 Jahren, mit Blick auf die Gegenwart und: die Zukunft. Begleitet werden die vier Hauptausstellungen von einer ganzjährigen Präsentation im zur Dunkelkammer umgestalteten Schatzkammer des Buchmuseums, die spielerisch-assoziativ mit Hilfe einiger bemerkenswerter Originale eine Mediengeschichte der Fotografie erzählt.

Der Maler Otto Dix mit Pinsel, Aufnahme von Hugo Erfurth, Repro: CR

Der Maler Otto Dix mit Pinsel, Aufnahme von Hugo Erfurth, aus dem Bestand der Deutschen Fotothek. Repro: CR

Monumentales Dix-Negativ

Ein Blickfang ist auf alle Fälle ein Foto von Hugo Erfurth das den Maler Otto Dix um 1930 im Malkittel mit Pinsel zeigt. Dix ließ sich in den 1920er und 1930er Jahren gleich mehrmals im Dresdner Studio von Erfurth ablichten. Das ausgestellte Bildnis entstand mittels einer Großbildplattenkamera auf einer Glasscheibe im monumentalen Format von 50 mal 40 Zentimetern – das größte Negativ der Sammlung. Es diente wahrscheinlich zur Anfertigung eines Bromöldrucks, eines von Erfurth oft eingesetzten Verfahrens aus dem Bereich der sogenannten Edeldrucke. Einem Bromöldruck liegt ein durch Belichtung gehärtetes und mit Ölfarbe betupftes Gelatinequellrelief auf Papier zugrunde, das im Unterschied zum scharfen Ausgangsbild des Negativs weichen, malerischen Charakters ist. Es erfreute sich insbesondere in der Kunstfotografie der Jahrhundertwende großer Beliebtheit.

Ab 1926 begannt eigene Aufnahmetätigkeit

Der Abschnitt „Taxonomie der Fotografie“ erzählt, wie die Deutsche Fotothek um 1926 mit eigener Aufnahmetätigkeit begann. Insofern ist der Bestand an im Haus selbst produzierten Fotografien relativ jung. Durch Erwerbungen oder Schenkungen aber kamen und kommen auch deutlich ältere Fotografien in die Sammlung, sodass sie einen repräsentativen Überblick über die frühen Verfahren und Anwendungsbereiche des Mediums im 19. Jahrhundert ermöglicht.

Salzpapierabzug, Kalotypie und Daguerreotypie vertreten

So wird eines der ältesten Werke im Fotothek-Bestand präsentiert, ein Salzpapierabzug von Bertha Wehnert-Beckmann (1815-1901), der auf Anfang der 1850er Jahre datiert ist. Die 1841 von William Henry Fox Talbot (1800-1877) eingeführte Kalotypie (altgriech. kalós = schön) ist das erste vervielfältigende Verfahren, mit dem Positive von einem Papier-Negativ durch Auskopieren gefertigt wurden. Bertha Wehnert-Beckmann, die zu den ersten Berufsfotografinnen zählt, verwendete es ebenso für ihre Porträtaufnahmen wie die wenig ältere Technik der Daguerreotypie. Obgleich im Entstehungsdatum alt, ist diese Fotografie eine der jüngsten Erwerbungen: sie gelangte erst 2023 in den Bestand.

Neue Interpretation durch Künstliche Intelligenz

Die aktive Erwerbungstätigkeit der Fotothek erstreckt sich auch auf den Bereich der Gegenwartsfotografie. So entstand 2023 im Rahmen eines zum Jubiläum ausgeschriebenen Fellowships eine künstlerische Arbeit von Bastian Gehbauer (*1985). Er befasste sich laut Texttafel „dafür mit den Möbelfotografien von Friedrich Weimer (1913–2008) aus dem Bestand der Deutschen Fotothek, die er in ihrer skulpturalen Qualität und als holzschnittartige Kulissen vorbildlichen Wohnens analysierte. Die Interpretation der Motive durch KI verstärkt die formal-ästhetische Lesart der ursprünglich als Gebrauchsfotografie intendierten Bilder.“

Anfangs war Fotografieren den Wohlhabenden vorbehalten

„Unter der Überschrift „Unikat versus Reproduktion. Massenmedium Fotografie“ wird deutlich gemacht, dass Fotografien wie das Fotografieren selbst im 19. Jahrhundert zunächst nur wohlhabenden Schichten vorbehalten waren, dass sich das Medium mit Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch allmählich „demokratisierte“. Kameras wurden kleiner, handlicher und erschwinglicher, die industrielle Fertigung von Papier- und Filmmaterial und die Standardisierung der Laborprozesse reduzierten weiter die Kosten. So wurde die Fotografie zunehmend zum bezahlbaren Hobby für die breite Masse. Zugleich avancierte sie in den 1920er Jahren in gedruckter Form endgültig zum führenden Bildmedium: Der Erfolg von auflagenstarken Illustrierten wie der „Berliner Illustrierten Zeitung“ basierte maßgeblich auf Bildreportagen. Entsprechend diesen Entwicklungen stieg die Anzahl der täglich entstehenden Bilder an. Das Massenmedium produzierte – auch schon vor der digitalen Ära, mit der die Zahlen in exorbitante Höhen stiegen – Masse. Fotografie bewahrende Institutionen wie die Deutsche Fotothek sind in ihrer Infrastruktur auf den Umgang mit großen Mengen an Fotografien eingestellt, seien es Negative, Papierabzüge, Fotoalben oder Diapositive. Sie werden in den Archivräumen konservatorisch richtig gelagert, datenbankgestützt erschlossen und in repräsentativer Auswahl digital erschlossen. Ein Raster aus Kleinbilddias „steht hier stellvertretend für die rund sieben Millionen Bildmedien umfassende Sammlung, ein einzelnes Bild für tausende weitere“.

Handkolorierte Groß-Dias

Im sechsten Abschnitt „Taxonomie der Fotografie. Das größte Dia“ wird vermittelt, dass schwarzweiße „Glaspositive“, die teils von Hand koloriert wurden, ab 1850 in verschiedenen Formaten zu finden sind. Sie dienten gerahmt als Fensterbild oder wurden, mit einem Papierband verklebt, mit Bildwerfern auf die Leinwand projiziert. Seit den 1880er Jahren produzierten Verlage wie Dr. Franz Stoedner Serien zu den unterschiedlichsten Themen für den wissenschaftlichen oder touristischen Bedarf, die auch von der Fotothek angekauft wurden.

In den 1930ern begann die Ära der Dia-Abende

Mit der Erfindung des Umkehrfilms durch Kodak in den USA und Agfa in Deutschland 1935/36 wurde das nun farbige Kleinbilddia zunehmend auch im Privatgebrauch populär. Familie, Feste und Urlaubsreisen wurden auf Diafilm geknipst und zuhause beim Dia-Abend vorgeführt. Aber auch öffentliche „Lichtbildvorträge“ erfreuten sich großer Beliebtheit. Dem Dia ist auch die Installation Bildstellenbilder von Thomas Bachler (* 1961) im Buchmuseum gewidmet). Auch im gewerblichen Kontext von Presse- oder Modefotografie etablierte sich das Dia als Druckvorlage, meist im Mittel- oder Großformat. Überdimensionale Dias kamen in der Werbung, etwa für Messestände, zum Einsatz. Die lebensgroßen Körper-Fotogramme fertigte Wolfgang G. Schröter (1928-2012) für den ORWO-Stand auf der Fotomesse Photokina in Köln 1968 als weltweit erste kameralose Pseudosolarisationen (Sabattier-Effekt) in Farbe). Sie waren Teil der Werbekampagne zur Warenzeichenumstellung der Wolfener Filmfabrik von Agfa auf ORWO und sind, reproduziert nach den Originalvorlagen, die größten Objekte der Sammlung.

Der erste 3D-Hype: 1851 brach „Stereomanie“ aus

Mit der Fotografie konnte die Welt in 3D ins Haus geholt werden. Noch überzeugender in ihrer Wirkung waren, wie man wie im Abschnitt „Spektakel des Sehens II“ vor Augen führen will, Bilder des Taj Mahal oder erhabener Alpenlandschaften im 3D der Stereoskopie (altgriech. Raumsicht). Schon vor 1839 hatte sich der englische Physiker Charles Wheatstone mit dem räumlichen Sehvermögen befasst, das erst durch Überlagerung der beiden von den Augen getrennt erfassten Bilder im Gehirn entsteht. Seine Überlegungen fanden schnell ihre praktische Anwendung in der Aufnahme eines Motivs aus zwei leicht versetzten Blickwinkeln. Die Herstellung der beiden Bilder erfolgte zunächst mit zwei Kameras nebeneinander oder nacheinander mit einer normalen Kamera, Spezialkameras mit zwei Objektiven kamen erst in den 1860er Jahren auf den Markt. Mit einer entsprechenden Apparatur ließen Stereofotografien die Betrachter in kulissenhaft gestaffelte, dreidimensionale Bildwelten eintauchen. Die Präsentation des Stereoskops auf der Pariser Weltausstellung 1851 bedeutete den Beginn einer regelrechten „Stereomanie“, die bis ins 20. Jahrhundert andauerte. Ende des 19. Jahrhunderts wurde aus dem individuellen Erlebnis ein Jahrmarktsspektakel. Das Kaiser-Panorama, eine drehbare Apparatur für 25 Betrachtern, bot für einen geringen Eintrittspreis kollektives Seh-Vergnügen in 3D. Neugier und Wissensdurst mischten sich darin mit Vergnügen und auch Voyeurismus.

Stereoskopie als Massenphänomen

Die Stereoskopie wurde zum wahren Massenphänomen. Millionen der circa 9 mal 18 Zentimeter messenden Karten wurden von international tätigen Verlagen wie Underwood & Underwood in New York, aber auch von regionalen Fotografen wie August Kotzsch (1836-1910) in Loschwitz oder Heinrich Axtmann (1850-1914) in Plauen, produziert. In Serien publiziert, lag der Schwerpunkt auf fernen Ländern mit ihren Sehenswürdigkeiten, spektakulären Landschaften und fremd anmutenden Gepflogenheiten der Einwohner. Auf „Lehnstuhlreisen“ konnte man so bequem und ohne Gefahr in aller Ruhe die Welt erkunden. Auch im Amateurbereich wurde, meist in kleineren Formaten wie 4,5 mal 10 Zentimeter, in Stereo fotografiert. So hielt der Berliner Großindustrielle Ernst von Borsig (1869-1933) als ambitionierter Hobbyfotograf zahlreiche Situationen des Familienlebens mit der Stereokamera fest, um sie später im „Zauberkasten“ des Stereoskops in 3D vorzuführen

Nach dem Weltkrieg ebbte Stereo-Boom ab

Als Teil der Unterhaltungsindustrie wurde die Stereofotografie schließlich durch das Kino abgelöst. Nach dem Ersten Weltkrieg nahm das allgemeine Interesse an der Stereoskopie ab. Im wissenschaftlichen Bereich, in dem das Verfahren einst entstanden war, kommt es aber weiter zur Anwendung, etwa in der Vermessungstechnik, für die Kartografie oder in der Denkmalpflege. Doch übt die dreidimensionale Wiedergabe der Wirklichkeit nach wie vor Faszination aus, wie der Erfolg von 3D-Kinofilmen, Hologrammtechnik oder Virtual Reality in Computerspielen zeigt.

Tausende Grubenfotos mit selbstgebauter 3D-Kamera heimlich aufgenommen

An außergewöhnlichem Ort kam die selbst konstruierte 3D-Kamera des Ingenieurs Wolfgang Schreiber (1940–2005) zum Einsatz. Aus privatem Interesse am Bergbau befuhr er ab den 1970er bis in die 1990er Jahre illegal Gruben und Stollen vor allem des Freiberger Reviers, in Annaberg, Marienberg oder Schwarzenberg und später im Harz. Auf über 4000 Kilometer „Schwarzbefahrungen“ entstanden tausende Aufnahmen, rund 4500 davon wurden 2022 von der Deutschen Fotothek digitalisiert und so bearbeitet, dass am Bildschirm mit einer einfachen Rot-Cyan-Brille in die Welt unter Tage eingetaucht werden kann.

Lieblingsbilder im Fokus

Einen anderen Aspekt der Fotografie zeigt die Ausstellung „Alles fürs Auge!“ in der Galerie am Lesesaal: Sie widmet sich anhand von Fotografien, Objekten und Archivalien der Geschichte der Deutschen Fotothek widmet. Eine Extra-Ausgabe der Loungeaffairs in der Cafeteria Bib-Lounge präsentiert „Lieblingsbilder“ von Kollegen, Partnern und Fotografen. Begleitet werden die Ausstellungen von einem dichten Veranstaltungsprogramm mit Führungen, Vorträgen, Künstlergesprächen und Konzerten.

Eigene Sonderausstellung auf den Fotothek-Internetseiten

Die Internetseite der Deutschen Fotothek bietet mit „100 Jahre – 100 Positionen“ einen eigens kuratierten Zugang, der entlang der wichtigsten Positionen Einblick in die Sammlung bietet: 100 bedeutende Fotografen und Bildverlage werden mit je 100 Motiven vorgestellt.

Auch anderenorts zeigt die Deutsche Fotothek in diesem Jubiläumsjahr Flagge: Ab 15. Mai mit der Retrospektive „Dirk Reinartz. Fotografieren, was ist“ im LVR-Landesmuseum Bonn oder ab 29. November mit der Ausstellung „Moderne Gefühle. Fotografien von Ingolf Thiel 1975–1985“ im Museum im Prediger in Schwäbisch Gmünd.

Mehr Infos unter: www.deutschefotothek.de/100

Autor: Christian Ruf

Quellen: Vor-Ort-Besuch, Deutsche Fotothek

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt
Kategorie: Kunst & Kultur, News, zAufi

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[caption id="attachment_175986" align="aligncenter" width="499"]Christian Ruf. Foto: hw Christian Ruf. Foto: hw[/caption]

Über Christian Ruf:

Christian Ruf wurde 1963 in München geboren und hat Geschichte sowie Politologie in München und Bonn studiert. Bereits vor dem Mauerfall reiste er mehrmals in die DDR, nach Polen und in die Sowjetunion. Nach der Wende zog er nach Sachsen um. Heute ist er als freier Journalist mit den Schwerpunkten Kultur und Geschichte in Dresden tätig, wenn er nicht gerade in anderen Ecken der Welt unterwegs ist.