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Klimaforscherin warnt vor Kipp-Punkten und will Entschleunigung

Schmelzwasserstrom in Grönland. Foto: Ian Joughin

Schmelzwasserstrom in Grönland. Foto: Ian Joughin

Womöglich ist so ein Punkt ohne Rückkehr in der Arktis bereits erreicht, meint Ricarda Winkelmann

Dresden/Potsdam, 27. März 2023. Vor selbstverstärkenden Effekten, Kipp-Punkten und Domino-Effekten im globalen Klimasystem hat erneut Prof. Ricarda Winkelmann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) gewarnt. Als Beispiel nannte sie die Eisschilde über der Antarktis und Grönland, die in Zukunft so stark schwinden könnten, dass sich selbstverstärkende Effekte aufschaukeln und sich die Eis-Schmelze dann selbst bei stagnierenden Erd-Durchschnittstemperaturen fortsetzen würde. Winkelmann plädierte daher in ihrem Vortrag „„Kipp-Punkte im Klimasystem“ in Dresden für mehr Umweltschutz, eine Entschleunigung der Welt und „soziale Kipp-Punkte“ zu Gunsten ökologischer Ziele.

Prof. Ricarda Winkelmann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, Foto: Heiko Weckbrodt

Prof. Ricarda Winkelmann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, Foto: Heiko Weckbrodt

Was sind Kipppunkte?

Darunter versteht Ricarda Winkelmann Punkte in einer Entwicklung, an der sich diese Veränderung – beispielsweise eine einmal auslöste Eisschmelze – verselbstständigt. Eine Rückkehr zum alten Zustand sei danach auch dann nicht mehr möglich, wenn der äußere Auslöser – beispielsweise steigende Temperaturen – gar nicht mehr wirken würden.

Ihre Aussagen, wann und unter welchen Bedingungen Kipppunkte erreicht werden und wie sie sich ankündigen, stützen die PIK-Forscher auf Modellrechnungen und Simulationen, die von zahlreichen Annahmen ausgehen.

Dieses 18 Meter tiefe Steiltal hat sich in den vergangenen Jahren durch Schmezflüsse in den Eispanzer gegraben. Foto: Ian Joughin, University of Washington

Dieses 18 Meter tiefe Steiltal hat sich in den vergangenen Jahren durch Schmelzflüsse in den Eispanzer gegraben. Foto: Ian Joughin, University of Washington, via Nasa

Beispiele für Kipppunkte

Die Klimaforscher vom PIK gehen von mindestens 16 möglichen Kipppunkten weltweit aus, die bisher identifiziert sind. Hier eine Auswahl:

  • Grönland-Eis: Wenn die Eisdicke im hohen Norden zu sehr sinkt, drohen laut PIK Rückkopplungs-Effekte hin zu einer sich verselbstständigenden Eisschmelze.
  • Antarktis-Eis: und das Oberflächen-Eis im umliegenden Meer zu sehr schrumpft, kann es nicht mehr so stark wie bisher den Eisabfluss des kontinentalen Eisschildes bremsen. Außerdem verlagert sich der Punkt, ab dem der antarktische Eisschild auf festem Boden aufsitzt, seit geraumer Zeit ins Landesinnere. Ãœberschreitet er einen Bergpunkt und „rutscht“ hinunter in ein Tal, würde die Schwerkraft das zu warme Wasser noch stärker ans Eis andrücken und die Schmelze beschleunigen – bis sich an einem Talpunkt wieder eine Gleichgewicht einstellt.
  • Permafrost: Es gibt Anzeichen, dass der Permafrost-Boden in Russland und anderswo nicht nur vorübergehend, sondern langfristig auftaut. Weil dabei Methan. Kohlendioxid und andere Kohlenstoff-Verbindungen freiwerden, die für einen Treibhaus-Effekt in Frage kommen, könnten sich einerseits der Tauprozess im Permafrost wie auch das globale Erdklima schneller als bisher erwärmen, ohne dass der Mensch noch viel dagegen tun könnte.
  • Amazonas-Regenwald: Reißen Holzfäller zu starke Lücken in den Baumbestand, dann gehen nicht nur linear Kohlenstoff-Speicher und Sauerstoff-Produzenten für die Erdbilanz verloren. Vielmehr könnten solche Lücken auch dazu führen, dass die Regenwälder überproportional austrocknen, weil ihre innere Feuchtigkeitszirkulation – die sogenannte „Regenwalze“ – unterbrochen wird. 
  • Weitere Kipp-Punkte sieht das PIK bei den atlantischen Meeresströmungen (Atlantik-Umwälzpumpe), Meereis, Gebirgsgletschern, Korallenriffen, europäischen Wäldern, in der Sahel-Zone und an anderen  Orten sowie Prozessen.    

Schmelzwasserstrom in Grönland. Foto: Ian Joughin, University of Washington, via Nasa

Schmelzwasserstrom in Grönland. Foto: Ian Joughin, University of Washington, via Nasa

PIK-Wissenschaftlerin: Am Eisschild, im Regenwald, an Getschern und im Permafrost kann Klima kippen

Solche Kipp-Punkte können laut der PIK-Forscherin durch den Kahlschlag in den Regenwäldern, Gletscherschmelzen in den Hochgebirgen, ein schlagartiges Abtauen der Permafrost-Böden beispielsweise in Russland und an anderen Orten ausgelöst werden. Wenn mehrere dieser Kipppunkte ausgelöst würden, könne dies im Zusammenspiel dann globale Domino- beziehungsweise Kaskadeneffekte auslösen. Winkelmann verwies insbesondere auf ihr Forschungsobjekt, die arktischen Eisschilde nahe dem Nord- und Südpol. Diese seien schon jetzt, da sich die durchschnittlichen Erdtemperaturen gegenüber der vorindustriellen Zeit um ein Grad erhöht haben, verstärkt in Gefahr, über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg abzuschmelzen, ohne dass dieser Prozess dann noch aufzuhalten sei. Insofern stehe die Frage, ob solch ein gefährlicher Kipppunkt beispielsweise vor Grönland und in der Amundsen-See bereits erreicht sei.

Selbstverstärkende Effekte befürchtet

Sie sieht nun mehrere Risiken steigen: Einerseits könne die dünne Eisdecke vor den Eisschilden, die bisher den Eisabfluss ausgebremst habe, ihren „Korkeneffekt“ verlieren. Andererseits könne der antarktische Eisschild in Zukunft so weit schmelzen, dass warmes Wasser durch bloße Schwerkraftwirkung in Täler des darunter liegenden Landsockels drücke und die Schmelzeffekte stetig verstärke. Und wenn diese und weitere Kipp-Punkte zusammenkämen, dann könne auch das atlantische „Transportband“, das warme und kalte Meeresströmungen global umwälze, sich ändern oder zum Stillstand kommen – mit dramatischen Auswirkungen für das Klima zum Beispiel in Europa.

Die weltweiten durchschnittlichen Temperatur-Entwicklungen seit 1880. Grafik/Quellen: Nasa, Giss, Gistemp, DPG

Die weltweiten durchschnittlichen Temperatur-Entwicklungen seit 1880. Grafik/Quellen: Nasa, Giss, Gistemp, DPG

„Bei der Prognose der künftigen Temperaturentwicklung muss zudem berücksichtigt werden, dass auch bei einem – hypothetischen – sofortigen und vollständigen Stopp der Treibhausgasemissionen eine weitere Erwärmung von ca. 0,3°C bis zum Jahr 2100 nicht zu verhindern wäre. Dies beruht auf der Trägheit des Klimasystems, vor allem auf der Trägheit der Ozeane.“

Aus: Physikkonkret Nr. 54, „Die Globale Erwärmung schreitet voran“, Herausgeber: Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG) 

Exakte Prognosen komplexer Systeme schwierig

Allerdings räumte Professorin Winkelmann auch ein, dass derartige Prognosen schwierig seien. Denn das Zusammenspiel kalte und warmer, stark und weniger salziger Wassermassen ist komplex und schwer als Ganzes zu simulieren. So gab es in der Vergangenheit auch Hinweise darauf, dass diese atlantische Pumpe nach einer gewissen Zeit einen selbstregulierenden, kühlenden Effekt für das Grönland-Eis haben könnte.

Technospäre wiegt schon 10 Billionen Tonnen

Allerdings liegt es nach Ãœberzeugung Winkelmanns (noch) in der Hand der Menschen, die Veränderungen im Weltklima aufzuhalten beziehungsweise umzugestalten – indem sie ihre Eingriffe in die Natur zurückdrehen. Wie stark der menschliche Abdruck auf dem Planeten bereits sei, lasse sich an der sogenannten „Technosphäre“ ablesen. Darunter fassen einige Wissenschaftler alle Straßen, Häuser, technischen Geräte und anderen menschlichen Artefakte – in Abgrenzung zu anderen Erdsphären wie Atmosphäre, Lithosphäre oder Biosphäre. Diese neue „Technosphäre“, die vor allem seit der ersten industriellen Revolution ab dem 18. Jahrhundert stark gewachsen ist, hat laut Winkelmann mittlerweile eine Masse von 30 Billionen Tonnen. Und in dieser menschengemachten Sphäre habe sich die Dauer normaler Prozesse enorm beschleunigt, werde teilweise – wie etwa bei Börsenkursen – in Millisekunden gemessen. Dieses Tempo passt aber nach Meinung der Forschung überhaupt nicht mehr zur normalen Dauer natürlicher Prozesse – daher wünscht sie sich eine „Entschleunigung“ der Menschenwelt.

Autor: Heiko Weckbrodt

Quelle: Kipp-Punkte-Vortrag von R. Winkelmann zur DPG-Frühjahrstagung 2023 in Dresden, PIK, Uni Potsdam

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt