Das Buch „Gläser Karosserie Dresden“ wartet mit einer unglaublichen Fülle an Informationen und Abbildungen auf.
Die Wege des Herrn sind unergründlich, heißt es bekanntlich. Das ist auch in der Autowelt so. Carl Heinrich Gläser beispielsweise begann als Kutschenbauer in Dresden, sattelte dann auf Automobilkarosserien von hervorragender Qualität um. Mitten in der Weltwirtschaftskrise von 1929 stieg er zum führenden deutschen Anbieter von Cabriolet-Karosserien auf – mit einem Ruf, der weit über die Grenzen Sachsens hinaus reichte. Wie Michael Brandes in seinem unter Mitwirkung von Peter Kirchberg und Christian Suhr verfassten Band „Gläser Karosserie Dresden“ vermittelt, vereinte Gläser zwei scheinbar unvereinbare Firmenkonzepte unter einer Marke: Lieferant von Serienkarosserien für alle namhaften deutschen Automobilbauer und zugleich Edelschmiede von Luxuskarosserien in Einzelanfertigung. „Aber alle hatten eines gemeinsam: Den hohen gestalterischen wie Qualitätsanspruch.“
Der Kunde war König
Es ist nicht das erste Buch über einst Deutschlands führende Adresse für Cabriolet-Karosserien. Aber in dieser Fülle von Informationen und Bildern wird es für absehbare Zeit das ultimative Standardwerk bleiben. Denn Brandes trieb an Quellen auf, was aufzutreiben war vom nach Kriegsverlusten traurigen Rest des dann an sich in alle Winde zerstreuten Firmennachlasses. Eine erfreuliche Folge von vielen: Zum ersten Mal werden alle Serienkarosserien für die unterschiedlichsten Automobilhersteller der 1930er Jahre dokumentiert: Von der Auto Union mit ihren vier Ringen (sie stehen für Audi, DKW, Horch und Wanderer) über BMW, Ford, Maybach, Opel bis Steyr, darunter viele heute längst vergessene wie auch ausländische Marken. Die Fülle an Fotos ist unglaublich. Die Augen gehen einem über, da muss man nicht mal Benzin im Blut haben wie Vin Diesel und all die anderen Akteure in den „Fast & Furious“-Filmen.
Sattler aus dem Erzgebirge eröffnete 1864 Karosseriewerkstatt in Dresden
Angefangen hat alles 1864, als der aus dem Erzgebirge stammende Sattlermeister Carl Heinrich Gläser auf der Rampischen Straße 24 (ab 1895 dann Rampische Straße 6) eine „Werkstatt für den Bau von Kutschwagen und Schlitten“ einrichtete. Die Produkte erfreuten sich ob ihrer Qualität regen Zuspruchs, auch beim Königshaus. 1877 baute man eine Berline, bekannt als „Gläserner Galawagen“, die anlässlich der Silberhochzeit von König Albert und für sonstige repräsentative Fahrten genutzt wurde. Heute gehört sie zum Bestand der Rüstkammer und ist nebst vielen anderen Kutschen auf Schloss Augustusburg ausgestellt.
Entscheidende Partnerschaft mit Radeberger Hufschmied Heuer
Teile der Gläser-Kutschen stammten vom Radeberger Hufschmied und Wagenbauer Friedrich August Emil Heuer, mit dem Gläser eine enge Freundschaft verband. 1898 trat Heuer nach einer Zahlung von 16.000 Mark als Geschäftsmitinhaber in das Unternehmen ein. Es herrschte mitnichten immer eitel Sonnenschein zwischen Heuer und Gläser, was unter anderem daran lag, dass Gläser auch dann Aufträge annahm, wenn sie keinen Gewinn brachten, oder auch so frei war, auf Kosten der Firma Bekannte und Freunde üppigst zu bewirten.
1902 zog sich der kinderlose Gläser aus dem Geschäft zurück. Das war insofern gut, weil er wie König Albert und dann dessen Bruder und „Amtsnachfolger“ Georg mit den neu aufgekommenen Automobilen nichts anfangen konnte. Heuer hingegen schon: Er hatte erkannt, dass dem Automobil die Zukunft gehört.
Brände warfen Unternehmen immer wieder zurück
Der Rest ist Erfolgsgeschichte. Allerdings gab es durchaus kleine und größere Katastrophen: etwa den verheerenden Brand am 18. September 1920, bei dem das Fabrikgelände in Radeberg in Schutt und Asche gelegt wurde. Und 1959 war es erneut ein Feuer, das ein wichtiges Fertigungsgebäude in Radeberg vernichtete. Idiotischerweise waren zwei Traktoren, die für den Festumzug zum 1. Mai neu lackiert werden sollten, trotz Verbots in die Spritzerei gefahren worden. Durch Funken vom Auspuff entzündete sich Nitro-Nebel. Und da die Türen zur Lackier-Box nicht geschlossen waren, brannte die gesamte, 1942/43 weitgehend aus Holz gebaute Halle nieder.
Mit Emil Nacke 1. Kraftomnibus aus Sachsen gebaut
Aber um erstmal wieder auf die „Gläser“-Ursprünge zurückzukommen: 1905 entstand in enger Zusammenarbeit mit dem Coswiger Automobilfabrikanten Emil Nacke der erste Kraftomnibus in Sachsen – als Jagdmobil für den sächsischen König. 1913 konnte das Unternehmen ein größeres Grundstück an der Arnoldstraße 16-24 in der Johannstadt erwerben und moderne Betriebsgebäude errichten. In kleinen Serien, aber auch in individuellen Einzelanfertigungen wurden hier Karosserien für Cabriolets und Luxusautos gebaut. Allerdings war die Kapazität zur Erhöhung von Stückzahlen „wegen der unrationellen Fertigung begrenzt“, wie Brandes vermerkt.
Wechsel-Aufbauten kamen in Mode
Immerhin kamen die Gläser-Karosseriebauer schon früh auf die Idee, das Automobil durch Wechselaufbauten vielseitiger werden zu lassen. Sie entwickelten einen abnehmbaren Aufsatz, mit dem man aus einem offenen Tourenwagen eine Limousine machen konnte. Umgekehrt konnte man durch das Abnehmen des Karosserieoberteils und Auswechseln von Türen mit Fenstern durch niedrige Türen den geschlossenen Wagen in einen offenen verwandeln. Damals sprach man von Phaeton-Limousinen oder abnehmbaren Limousinen. „Heuer gehörte damit in Deutschland zu den Ersten, der diese Bauweise praktizierte, die dann viel später in den 1920er Jahren unter dem Begriff Aufsatz-Limousine populär geworden ist.“
Cabrios gefielen auch den Amerikanern
Fast alle namhaften europäischen Automobilhersteller bezogen Gläser-Karosserien aus Dresden. Selbst in die USA exportierte der Betrieb während der Weimarer Republik gelegentlich. Allerdings importierte das Deutsche Reich damals mehr und mehr Autos aus den Vereinigten Staaten. Die US-Fahrzeuge wuchsen zur ernsthaften Konkurrenz für die deutsche Automobil-Industrie, wurden amerikanische Wagen doch in viel größeren Stückzahlen und damit billiger hergestellt.
Noch waren Autos kein Massenprodukt, dafür waren sie einfach zu teuer. Anders als beim E-Auto heute mussten sich aber weder Regierung noch Hersteller ständig neue Methoden und Lockmittel ausdenken, um dem Verbraucher die Ware anzudrehen. Gut für Gläser war auf alle Fälle, dass die in Europa so populären Cabriolets im Amerika nahezu unbekannt waren. Das betraf auch Pullmann-Cabriolets. Deshalb passte Georg Heuer eine bei Gläser „Kombinations-Cabriolet“ genannte Karosserie für die Chassis von General Motors an.
Weltwirtschaftskrise versetzte dem Betrieb fast den Todesstoß
Im Zuge der Weltwirtschaftskrise 1929 traten massive finanzielle Probleme ein. Wegen der drohenden Zahlungsunfähigkeit nahm sich Georg Heuer 1932 das Leben. Sein bereits 74-jähriger Vater Emil Heuer trat daraufhin wieder in die Firma ein. Er nahm zwei Jahre später seinen Schwiegersohn Willy Bochmann, der Besitzer einer kleinen Metallwaren- und Blechspielzeugfabrik in Dresden gewesen war, als Teilhaber auf und wandelte die Autofabrik in eine GmbH um. Bis 1939 wurden von der Gläserkarosserie G.M.B.H. in Dresden und Radeberg weiterhin Luxuskarosserien gebaut. Dann stieg das Unternehmen – wie schon im Ersten Weltkrieg – in die Rüstungsproduktion mit ein und beutete dabei Fremd- und Zwangsarbeiter aus.
Nach dem Krieg verstaatlicht
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Produktionsstätten in Dresden und Radeberg dringend für den Wiederanlauf der Pkw-Produktion in der DDR benötigt. Obwohl vollkommen zerstört, entwickelte sich Gläser „binnen weniger Jahre zum leistungsfähigsten Karosseriewerk“ auf dem Boden der Sowjetischen Besatzungszone. Wie Brandes verdeutlicht, wären ohne den zum VEB Karosseriewerke Dresden (KWD) verstaatlichten Betrieb die Karosserien für den DKW F 8 nicht denkbar gewesen. Man avancierte zu einer der wichtigsten Säulen des IFA-Karosserieprogramms für die Modelle von EMW, IFA F 9 und Wartburg.
Dennoch geriet die DDR-Fahrzeugindustrie schon in den frühen 1950ern zunehmend in die Kritik von Käufern wie Fachzeitschriften, weil sie auch Jahre nach dem Krieg „keine zeitgemäßen, dem internationalen Standard entsprechende Personenwagen anbieten konnte“. Der Westen war de facto das Maß aller Dinge – das bezeugt  selbst ein Foto, das einen Musterwagen in Zweifarblackierung auf der Freitreppe des Pillnitzer Schlosses zeigt. Gemacht hat das Bild um 1957 der damals namhafte Werbefotograf Friedrich Otto Bernstein. Er fotografierte auch noch die IFA-Ausstellung der Leipziger Messe, dann trat er wie so viele kreative Köpfe 1958 die Flucht in den Westen an.
Die schönsten Wartburgs kamen aus dem Karosseriewerk Dresden
Ab 1955 begann eine neue Ära: Gläser begann Karosserien für den Wartburg zu fertigen. Wie schon bei IFA F 9 und P 70 Coupé erfolgte die Rohbaufertigung im Dresdner Fertigungsbereich in der Industriestraße. Die Lackierung und Montage der Karosserie auf das Chassis fand auf einer neuen Taktstraße in der Arnoldstraße statt. Zu den Glanzpunkten dieser Zeit gehörte die Cabriolet-Variante des Wartburg 311 und der limitierte Sportwagen Wartburg 313 – zwei der schönsten Autos, die in der DDR je gebaut worden sind.
In chronischer Mangelwirtschaft konnte Ex-Gläser nicht mehr mithalten
Doch so mancher Traum platzte. So überarbeiteten 1959 zwei KWD-Konstrukteure den Wartburg 311/2. Durch eine Panorama-Frontscheibe und ein neu gestaltetes Armaturenbrett sollten dessen Erscheinungsbild aufgewertet werden. Wie schon bei anderen Entwicklungen ging das Fahrzeug dann aber nicht in Serie. Eine Hauptursache dafür war, dass in der DDR kein Glaswerk in der Lage war, die benötigten Panorama-Frontscheiben zu produzieren. Sie wären nur gegen harte Devisen in Westdeutschland zu beschaffen gewesen.
Traktoraufbauten statt schicke Cabrios
Als DDR-Kombinatsbetrieb verlor das Unternehmen in den folgenden Dekaden immer mehr seinen Status als Designer und Hersteller anspruchsvoller Auto-Karosserien, übernahm zunehmend Zulieferaufgaben, stellte unter anderem Wohnwagen und Traktoraufbauten her. Schon vor der Wende verlagerte der Betrieb seinen Produktionsschwerpunkt immer mehr von Dresden nach Radeberg. Am 1. Januar 1994 gründeten dort der Wolfsburger Spediteur Rolf Schnellecke und drei KWD-Mitarbeiter die „Karosseriewerke Dresden GmbH“. Das Unternehmen errichtete in den Folgejahren in Radeberg ein neues Presswerk und spezialisierte als Zulieferer für VW, Audi, Mercedes, Porsche und Skoda. Heute beschäftigt der ehemalige Gläser-Betrieb rund 500 Menschen und firmiert als „KWD Automotive“ als Teil der Schnellecke-Gruppe.
Die von „SammelSUHRium“ herausgegebene und 320 Seiten umfassende Publikation ist für 58 Euro plus 5,80 Euro Versandkosten ausschließlich über die Webseite www.sammelsuhrium.de erhältlich! Kontakt über Tel. 03765-711 611.
Kurzüberblick:
- Autoren: Michael Brandes, Peter Kirchberg und Christian Suhr
- Titel: „Gläser Karosserie Dresden“
- Genre: Sachbuch Automobil- und Wirtschaftsgeschichte)
- Herausgeber: Christian Suhr – SammelSUHRium, Reichenbach 2022
- Umfang: 322 Seiten mit zahlreichen, teils farbigen Fotos und Illustrationen
- Preis: 58 Euro
Autor der Rezension: Christian Ruf
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