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Leben im chinesischen Jahrhundert

Umschlag des Buches von Joschka Fischer: Der Abstieg des Westens. Abb.: Kiwi

Umschlag des Buches von Joschka Fischer: Der Abstieg des Westens. Abb.: Kiwi

Im Buch „Der Abstieg des Westens“ plädiert Ex-Außenminister Joschka Fischer dafür, die EU-Staaten enger zusammenzuschmieden, um zwischen den Polen USA und China zu bestehen

Zwischen den Mahlsteinen China und USA könnte Europa schon bald ganz und gar zur drittklassischen Kraft absinken – in politischer, wirtschaftlicher wie militärischer und gesellschaftlicher Hinsicht. Davor warnt jedenfalls der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer in seinem Buch „Der Abstieg des Westens“. Darin prophezeit der frühere grüne Spitzenpolitiker und „Realo“ Fischer nach den Jahrhunderten europäischer Dominanz und dem US-dominierten 20. Jahrhundert nun ein chinesisches 21. Jahrhundert: Gegen die scheinbar unaufhaltsam aufsteigende und zunehmend innovationsstarke Superkraft aus dem Osten werde die USA allenfalls noch als Gegenpol agieren.

US-Präsident Donald trump. Foto: Weißes Haus

US-Präsident Donald Trump. Foto: Weißes Haus

Wachsende Distanz zwischen Volk und Eliten begrünstigte Wahl Trumps

Dabei sieht er in der Wahl Donald Trumps (Republikaner) zum US-Präsidenten ein längst überfälliges Fanal: „Die Wahl von Donald Trump war ganz offensichtlich kein Betriebsunfall der amerikanischen Geschichte, vielmehr Ausdruck einer tiefen, lang anhaltenden Entfremdung zwischen der politischen und wirtschaftlichen Elite des Landes und weiten Teilen der weißen Arbeiterklasse, der Mittelschicht und dem tiefen Amerika in der Provinz und den alten Industriegebieten“, sagt der Ex-Minister – wobei dies ganz ähnlich auch für Deutschland und andere europäische Länder gesagt werden könnte und Fischer selbst in der Bundesrepublik zu eben diesen Eliten gehörte und gehört. Spätestens seit der Finanzkrise und der Bankenrettung zu Lasten der Steuerzahler habe diese Eliten jedenfalls zutiefst diskreditiert.

USA kamen mit neuer Rolle als Allein-Supermacht nicht klar

Ohnehin sei es den USA nach dem Zusammenbruch des Ostblocks nicht wirklich gelungen, ihre Rolle als alleinige Supermacht adäquat auszufüllen – die Amerikaner seien davon überfordert gewesen. Schon von daher werde es wohl auch nach einem Ende der Trumpschen Präsidentschaft kein Zurück zu alten Macht- und Ordnungsstrukturen in der Welt geben, glaubt der frühere Außenminister.

Enorme Modernisierungsfortschritte der Chinesen

Und Europa wiederum sei zerstritten und immer öfter gewesen, mit einer Stimme zu sprechen argumentiert Fischer weiter. Derweil sei China dabei, in Asien eine Führungsrolle zu übernehmen – und werde diesen Führungsanspruch womöglich bald auch weltweit geltend machen. Und dieser Anspruch gründet sich nicht nur auf die chinesische Aufrüstung und das wachsende Selbstbewusstsein im reich der Mitte, sondern auch auf die enormen Modernisierungsfortschritte, dass dieses bevölkerungsreiche Land in den vergangenen Dekaden – von langer Hand geplant und strategisch durchgezogen – gemacht habe.

Russland verschläft Modernisierung

Russland dagegen habe diesen Zug verpasst und könne kein echter Gegenpol zu China mehr sein, meint Fischer: Zu sehr habe sich das Putin-Reich auf seine Rohstoffe und seine militärische Kraft verlassen, ohne wie die Chinesen eben auch eine echte Modernisierung voranzutreiben.

China fehlt allerdings „Soft Power“ der USA

Aber auch China fehle etwas, das seinerzeit den Aufstieg der USA zur globalen Dominanz stark begünstigt habe: die sogenannten „Soft Powers“. Wo die Amerikaner mit Jeans-Hosen, Coca-Cola, Freiheitswillen und Rockmusik Menschen in vielen anderen Ländern faszinierten, biete China zwar Innovation, Seidenstraße und Wohlstandsversprechen, aber dazu eben nur einen kapitalistischen und nationalistischen Marxismus-Leninismus, der außerhalb des Xi-Imperiums wenig Anziehungskraft entfalte. Auch deshalb spreche vieles dafür, so Fischer, „dass es im 21. Jahrhundert tatsächlich nicht zu einer Wachablösung, sondern zu einem Duopol“ mit China und den USA als dominierenden Mächten kommen könnte.

Sollten Nationalstaaten in Vereinigten Staaten von Europa aufgehen?

Welche Rolle Europa zwischen diesen zwei Polen spielen könne, werde wesentlich davon abhängen, ob sich die EU wieder zusammenraufen könne, meint Fischer. Ähnlich die der französische Emanuel Macron sieht er einen zukunftsweisende Weg eine noch stärkere Integration der Mitgliedsstaaten in einen kraftvolleren Verbund. Letztlich werde dies aber wohl nur funktionieren, wenn die Nationalstaaten und ihre Bürger bereit seien, weitere Souveränitätsrechte an die Union abzutreten.

Fazit: Altbundesrepublikanischer Blick auf die Welt

Als ehemaliger Außenminister und über Jahrzehnte erfahrener Politiker hat Fischer einen ganz eigenen und sicher auch tieferen Einblick ins aktuelle Zeitgeschehen als andere – und das merkt man dem Buch auch an. Was man Fischers Argumentationen allerdings immer wieder anmerkt, ist seine westdeutsche Sozialisierung, die ungeachtet allen grünen Aufbegehrens eben doch für ein in gewisser Weise konservatives Weltbild sorgen. In diesem Selbstverständnis ist die anstrebenswerte Ordnung auf Erden – mit ein paar Verbesserungen natürlich – die der alten Bundesrepublik, in der man gerne auf die Amerikaner schimpfte, aber sich doch auf deren Protektorat verließ.

Kurzüberblick:

  • Titel: Der Abstieg des Westens – Europa in der neuen Weltordnung des 21. Jahrhunderts
  • Autor: Joschka Fischer
  • Verlag: Kiepenheuer&Witsch
    ISBN: 978-3-462-05165-0
    Köln 2018/2019
  • Umfang: 240 Seiten
  • Preis Taschenbuch: Elf Euro
  • Leseprobe: hier

Autor der Rezension: Heiko Weckbrodt

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt