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Klimawandel polarisiert Linke, Einwanderung die Rechten

Themen wie Klimawandel und Zuwanderung polarisieren die Gesellschaft besonders. Montage und linkes Foto: Heiko Weckbrodt, Visualisierung rechts: Dall-E

Themen wie Klimawandel und Zuwanderung polarisieren die Gesellschaft besonders. Montage und linkes Foto: Heiko Weckbrodt, Visualisierung rechts: Dall-E

Europastudie von Midem Dresden: Rentner, Großstädter, Wohlhabende und Linke regen sich besonders über Andersdenkende auf

Dresden, 18. Juli 2023. Rentner, Wohlhabende, Großstädter und Linke ärgern sich bei gesellschaftlichen Konfliktthemen besonders stark über Andersdenkende. Das geht aus einer fast europaweiten Umfrage des Forschungszentrums „Mercator Forum Migration und Demokratie“ (Midem) an der TU Dresden hervor. Emotional besonders aufgeladene und polarisierende Reizthemen sind dabei vor allem der Klimawandel und der Zuzug aus dem Ausland.

Prof. Hans Vorländer. Foto: TU Dresden

Prof. Hans Vorländer. Foto: TU Dresden

„Im Zusammenhang mit ‚Migration‘ sind diejenigen am stärksten polarisiert, die den Zuzug von Ausländerinnen begrenzen wollen“, erklärt Midem-Direktor Prof. Hans Vorländer. „Im Zusammenhang mit ‚Klimawandel‘ sind es diejenigen, denen die politischen Maßnahmen zur Bekämpfung nicht weit genug gehen. Während der Klimawandel insbesondere die Wählerschaft linker und ökologischer Parteien polarisiert, ist die Ablehnung gegenüber Andersdenkenden beim Thema ‚Migration‘ vor allem bei Wählergruppen rechter und rechtsextremer Parteien dominant.“

Spaltungspotenzial von Sozialhilfe ist geringer als oft angenommen

Andere Themen aus der aktuellen Debatte werden oft als polarisierender wahrgenommen, als sie tatsächlich sind: So waren beispielsweise viele Befragte davon überzeugt, dass „Sozialleistungen und ihre Finanzierung“ das Zeug haben, die Gesellschaft zu spalten. Tatsächlich ist das ein oft gewähltes Debattenthema, es regt aber nur wenige derart auf, dass sie sich emotional heftig hineinsteigern – was die Dresdner Forscher als wichtiges Kriterium für eine sogenannte „affektive Polarisierung“ der Gesellschaft heranziehen.

Italiener echauffieren sich am meisten, Deutschland liegt im Mittelfeld

Allerdings gibt es auch deutliche Unterschiede innerhalb Europas, wer sich worüber richtig aufregt und Andersdenkende dabei verachtet, hasst oder sonstwie emotional ablehnt. „Italien weist generell das höchste Maß an affektiver Polarisierung auf, vor Griechenland und Ungarn“, heißt es in der Zusammenfassung der Studie. „Im Gegensatz dazu sind die Befragten in den Niederlanden und Tschechien am wenigsten polarisiert.“ Deutschland liege gemeinsam mit Ungarn und Spanien im Mittelfeld.

Ukraine-Krieg regt Tschechen auf, Italiener ärgern sich über Umgang mit sexuellen Minderheiten

Auch unterscheiden sich die Themen ein Stück weit, die das eine oder andere Land in Europa aufregt: So polarisiere beispielsweise der „Umgang mit sexuellen Minderheiten die Italiener,Spanier und Griechen ganz besonders. Dagegen ist es in Tschechien vor allem der Krieg in der Ukraine, der die Menschen spaltet und emotional bewegt: „Viele Tschechinnen stehen der eigenen Regierung sowie deren politischen Maßnahmen zur Unterstützung der Ukraine sehr kritisch gegenüber“, haben die Midem-Wissenschaftler herausgefunden.

Gräben bei AfD- und Grünen-Anhängern besonders tief

In Deutschland wiederum regen vor allem die Zuwanderung, der Krieg in der Ukraine, der Klimawandel und Corona viele Menschen auf die eine oder andere Weise auf. Dabei sind die Unterschiede zwischen hoch und wenig Gebildeten, Städtern und Landbewohnern nicht so stark ausgeprägt wie anderswo in Europa. Besonders polarisiert sind allerdings AfD- und Grünen-Anhänger. „Die geringste Abneigung gegenüber Menschen mit unterschiedlichen Ansichten besteht bei Nichtwählerinnen sowie bei der Wählerschaft christdemokratischer oder konservativer Parteien“, so Midem.

Midem-Direktor: Ideologische Verhärtungen schaden der Demokratie

Hans Vorländer warnt vor den Gefahren, die sich für die Demokratie ergeben, wenn Debatten auf der Gefühlsebene ausgetragen werden und sich die Positionen schließlich immer weiter verhärten: „Hohe affektive Polarisierung kann somit auch auf ideologische Verhärtungen, auf unzureichendes Verständnis für abweichende Einstellungen sowie auf fehlende Kompromissbereitschaft verweisen“ betont der Politologe. „Dann werden demokratische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse erschwert und ihre Akzeptanz schwindet. Das schadet der Demokratie.“

Spaltung der Gesellschaft als „dauerhaftes Narrativ unserer Zeit“

Zugleich setzte sich der Professor aber auch dafür ein, den Begriff „Polarisierung“ nicht überzustrapazieren: „Ob im Kontext von Migration, Klimawandel oder dem Krieg in der Ukraine – schnell fällt im öffentlichen Diskurs das Schlagwort ‚Polarisierung‘“, erklärt er im Vorwort zur Studie. „Die Spaltung der Gesellschaft scheint zum dauerhaften Narrativ unserer Zeit geworden zu sein.“ Tatsächlich sei aber zu überprüfen, ob das tatsächlich immer zutreffe: „Ist die ständig wiederholte These vom Verlust des gesellschaftlichen Zusammenhalts zutreffend?“, fragte Vorländer rhetorisch. „Geht ein Riss durch die europäischen Gesellschaften? Oder befinden wir uns lediglich in einem intensiven gesellschaftlichen Aushandlungsprozess?“ Schließen hätten gesellschaftliche Konflikte schon immer die Politik bestimmt, seien essenzieller Bestandteil der Demokratie – „als Ausdruck von Pluralismus und des Ausgleichs widerstreitender Meinungen und Interessen“.

20.000 Menschen in zehn EU-Staaten befragt

Für die Studie hatten die TU Dresden und das Meinungsforschungsinstitut Yougov im Herbst 2022 rund 20.000 Menschen in zehn Mitgliedstaaten der Europäischen Union befragt: in Deutschland, Frankreich, Italien, in den Niederlanden, in Schweden, Spanien, Griechenland, Polen, Tschechien und Ungarn. Dabei ging es um die jeweils eigenen Einstellungen der Befragten und deren Gefühle gegenüber entgegengesetzten Meinungsgruppen zu den Themen Zuwanderung, Krieg in der Ukraine, Covid-19-Pandemie, Klimawandel, Sozialleistungen und ihre Finanzierung, Gleichstellung von Frauen in der Gesellschaft und Umgang mit sexuellen Minderheiten.

Autor: Heiko Weckbrodt

Quelle: Midem, TU Dresden

Wissenschaftliche Publikation:

„Polarisierung in Deutschland und Europa – Eine Studie zu gesellschaftlichen Spaltungstendenzen In zehn europäischen Ländern“, Autoren: Maik Herold, Janine Joachim, Cyrill Otteni und Hans Vorländer, in: Forum Midem 2023-2 / Mercator-Stiftung, Fundstelle im Netz hier

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt