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Prototypen statt Autoteile: ACTech übernimmt Mahle-Werk in Freiberg

CNC-Fräser André Richter bei der Bestückung des Werkzeugmagazins eines CNC-Fräszentrums bei ACTech. Foto: ACTech GmbH

CNC-Fräser André Richter bei der Bestückung des Werkzeugmagazins eines CNC-Fräszentrums bei
ACTech. Foto: ACTech GmbH

Wirtschaftsminister: 30 Jahre Transformationserfahrung helfen Sachsen heute über Krisen hinweg / Ifo-Forscher Ragnitz: Diese Erfahrung nützt heute kaum etwas

Dresden/Freiberg, 16. August 2022. Der sächsische Prototypen-Bauer „ACTech GmbH“ will in Freiberg rund 23 Millionen Euro in eine zweite Fabrik investieren. Gesichert hat sich das Unternehmen dafür knapp 9000 Quadratmeter Fläche im „Werk 2“, das der Automobilzulieferer „Mahle“ samt 85 Beschäftigten im Frühjahr 2022 wegen „struktureller Anpassungen“ geschlossen hatte. Das geht aus Mitteilungen von ACTech in Freiberg und vom sächsischen Wirtschaftsministerium in Dresden hervor.

Luftbildaufnahme des zweiten ACTech-Standortes im Gewerbegebiet Freiberg-Ost. Foto: ACTech GmbH

Luftbildaufnahme des zweiten ACTech-Standortes im Gewerbegebiet Freiberg-Ost. Foto: ACTech GmbH

ACTech will nun Umsatz verdoppeln

Auf dem früheren Mahle-Areal will ACTech Teile seiner „mechanischen Bearbeitung“ und seiner Messtechnik unterbringen. Dadurch könne man künftig mehr „Wünsche solcher Kunden erfüllen können, die schon lange nach größeren, schwereren und komplexeren Gussteilen suchen“, hieß es vom Unternehmen. Produktion und Umsatz von ACTech sollen sich durch den neuen Standort verdoppeln. Mittelfristig will der Betrieb seine Belegschaft um 150 Beschäftigte vergrößern.

Freiberger sind auf Guss-Prototypen spezialisiert

ACTech wurde 1995 gegründet und hat insgesamt rund 380 Beschäftigte. Spezialisiert ist das Unternehmen auf die Anfertigung Guss-Prototypen. Dabei setzen die Freiberger neben CNC-Bearbeitungszentren auch Techniken des schnellen Prototypenbaus („Rapid Prototyping“) ein. Der Betrieb gehört seit 2017 zum belgischen Konzern „Materialise“ der sich auf 3D-Druck beziehungsweise additive Fertigung fokussiert.

Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) Foto: Heiko Weckbrodt

Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) Foto: Heiko Weckbrodt

Wirtschaftsminister Dulig: „Wo Schatten ist, scheint später oft auch wieder Licht“

Aus Sicht von Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) ist die ACTech-Investition in das aufgegebene „Mahle“-Werk nur eines von vielen Beispielen, dass auch drei Dekaden nach der Wende die Transformationsprozesse in der sächsischen Industrie weiter im Gange sind – und oft genug auch zu einer erfolgreichen Erneuerung führen. Der Freistaat und die Wirtschaftsförderung Sachsen (WFS) würden sich in diesen Transformations-Prozessen darum bemühen, die industrielle Produktion am Standort zu erhalten und Arbeitsplätze zu sichern. „Viele positive Beispiele zeigen: Da wo Schatten ist, scheint später oft auch wieder Licht“, betonte Dulig.

Ein letzter prüfender Blick, bevor die Serienproduktion in der neuen Solarmodul-Fabrik von Meyer Burger in Freiberg startet. Foto: Meyer Burger

Ein letzter prüfender Blick, bevor die Serienproduktion in der neuen Solarmodul-Fabrik von Meyer Burger in Freiberg startet. Foto: Meyer Burger

Beispiel Solarworld und „Roth & Rau“

Besonders langen Atem forderte da beispielsweise „Roth & Rau“ aus Hohenstein-Ernstthal: Der 1990 aus der TU Chemnitz ausgegründete Anlagenbauer spezialisierte sich zunächst sehr erfolgreich auf Fertigungsmaschinen für die Photovoltaik-Industrie (PV) und war zeitweise an der Börse notiert. Im Zuge der schweren Solarkrise, während der ab Ende 2011 reihenweise deutsche – darunter auch viele sächsische – PV-Unternehmen strauchelten oder pleite gingen, geriet auch „Roth & Rau“ ins Abseits. In dieser Zeit übernahm „Meyer Burger“ schrittweise den sächsischen Betrieb und richteten ihn auf den Anlagenbau für den Eigenbedarf der Schweizer Gruppe aus. Jahre später beginnt sich dieser Kurs nun auch wieder in neuen Solar-Produktionskapazitäten in Sachsen auszuzahlen: „Meyer Burger“ übernahm einen Teil der einstigen „Solarworld“ in Freiberg, die als eines der letzten großen PV-Unternehmen in Sachsen 2017 in mehreren Schritten pleite ging. Seitdem rüstet die ehemalige „Roth & Rau“ und deren eidgenössische Mutter nun die frühere Solarworld-Fabrik mit neuentwickelten Maschinen aus, die bald die Massenproduktion einer neuen Generation besonders effizienter Solarmodule starten soll. Als Zulieferer für die Zellproduktion haben die Schweizer eine ehemalige Solarzellenfabrik von Q-Cells/Sovello in Bitterfeld-Wolfen reaktiviert und umgerüstet.

Vor zehn Jahren hatte "Meyer Burger" diese Fabrikhalle für Solarworld ausgerüstet. Inzwischen ist Solarworld (siehe ausgebleichtes Logo links) pleite und die Schweizer wollen darin selbst Solarmodule herstellen. Foto: Heiko Weckbrodt

Vor zehn Jahren hatte „Meyer Burger“ diese Fabrikhalle für Solarworld ausgerüstet. Inzwischen ist Solarworld (siehe ausgebleichtes Logo links) pleite und die Schweizer wollen darin selbst Solarmodule herstellen. Foto: Heiko Weckbrodt

„Mit der Solarworld-Pleite gingen mehr als 2000 Arbeitsplätze in der Freiberger Photovoltaik-Industrie verloren“, heißt es dazu vom Wirtschaftsministerium. „Meyer Burger startete in Freiberg mit rund 150 Beschäftigten neu und plant bis zu 3500 Arbeitsplätze im Jahr 2027. Der Freistaat Sachsen unterstützte die 2021 erfolgte Wiederbelebung des Werkes mit einer Landesbürgschaft.“

Beispiel Sonderbus-Bau in Plauen

Und das Dulig-Ministerium verweist auf weitere Beispiele für erfolgreiche Transformationsprozesse. Dazu gehört die Übernahme der Sonder-Busfabrik, die erst Neonplan und dann die VW-Tochter „MAN“ in Plauen betrieben hatte, durch den Sonderfahrzeugbauer „Binz Ambulance- und Umwelttechnik GmbH“ im April 2021. Binz habe damit zumindest 80 der 120 Arbeitsplätze dort gerettet, einige Beschäftigte seien auch in VW-Werk Zwickau gewechselt. Heute habe Binz bereits wieder 100 Arbeitsplätze und ein weiteres Wachstum sei absehbar, so das Ministerium. „Erst jüngst konnte BINZ-Geschäftsführerin Cathrin Wilhelm einen weiteren Erfolg verkünden: Der Sonderfahrzeugbauer schloss vor wenigen Tagen einen Großauftrag zur Fertigung von Einsatzfahrzeugen für das Technische Hilfswerk (THW) ab.“

Weitere Beispiele für erfolgreiche Übernahmen seit 2018

(Quelle: Sächs. Wirtschaftsministerium)

  • 2021: Insolvenz der Trompetter Guss Chemnitz GmbH, Übernahme durch die Gienanth-Gruppe (Erhalt von 400 Arbeitsplätzen)
  • 2021: Insolvenz der Westfalia Presstechnik GmbH & Co. KG in Crimmitschau, Übernahme durch die Vollmann-Gruppe (Erhalt von 200 Arbeitsplätzen)
  • 2021: Insolvenz der PWK IBEX GmbH in Gelenau, 2022 Übernahme durch die Winning Group (Erhalt von 115 Arbeitsplätzen)
  • 2020: Insolvenz der Minda KTSN Plastic Solutions GmbH Pirna, 2021 Übernahme durch Eissmann Group Automotive (Erhalt von 400 Arbeitsplätzen)
  • 2020: Insolvenz der Kübler & Niethammer Papierfabrik Kriebstein AG, Übernahme durch Fesco (Erhalt von 130 Arbeitsplätzen)
  • 2018: Übernahme des in Schieflage geratenen Wurzener Standorts des Schüttguttechnik-Spezialisten Emde durch das Großzschepaer Bau- und Abbruchunternehmen Kafril (Erhalt von 100 Arbeitsplätzen)

Dulig: Sachsen baut auf drei Dekaden voller Transformation auf

„Unterschiedliche Gründe können in einer Marktwirtschaft zu Standortschließungen oder gar Insolvenzen führen: Falsche unternehmerische Strategien, sich rasant verändernde Märkte, Modernisierungs- und Innovationsstau oder Abwägungen der Unternehmen, Arbeit an Standorte in westdeutschen Konzernzentralen zu Lasten des Ostens zu verlagern“, meint Minister Dulig. Sachsen könne bei solchen Betriebsschließungen und ähnlichen Problemen aber „auf über 30 Jahre Transformationserfahrung und starke Kompetenzen bauen“, betonte er. „Hunderttausende Menschen haben sich nach 1990 beruflich umorientiert, neue Unternehmen gegründet, neue Berufe erlernt. Das sind Erfahrungen, die wir in der ansehenden Transformation unserer Wirtschaft nutzen können – wir sind schnell und flexibler als andere.“

Prof. Joachim Ragnitz ist Stellvertretender Leiter der ifo-Niederlassung Dresden. Foto: Heiko Weckbrodt

Prof. Joachim Ragnitz ist Stellvertretender Leiter der ifo-Niederlassung Dresden. Foto: Heiko Weckbrodt

Ifo-Forscher Ragnitz widerspricht: Ostdeutsche Transformationserfahrung nützt heute wenig

Den praktischen Wert dieser Transformations-Erfahrungen der Ostdeutschen für die Wirtschaftsprobleme von heute hatte indes erst kürzlich Prof. Joachim Ragnitz vom Ifo-Institut in Dresden in Frage gestellt. Als zentrale Herausforderungen sieht er in in seinem Kommentar „Was ist die ostdeutsche Transformationserfahrung heute noch wert?“ vor allem Klimaschutz, Energiewende, Transformation der Autoindustrie, massiver Fachkräftemangel und die digitale Transformation der gesamten Wirtschaft – und meint: „Es spricht wenig für die Vermutung, dass die Transformationserfahrungen der Wendezeit heute noch so weit tragen, dass Ostdeutschland besonders prädestiniert dafür sei, die anstehenden Herausforderungen besser zu bewältigen als andere Regionen in Deutschland.“

„Typisch für Ostdeutschland scheint aber eine eher hohe Risikoscheu zu sein“

Denn Ostdeutschland sei „massiv überaltert“ und „strukturkonservativ“, viele Menschen hier seien nicht unbedingt bereit, „neue Wagnisse – und Innovationen sind immer ein Wagnis – einzugehen“. Eben diese Bereitschaft sei aber hierzulande zu schwach ausgeprägt „Typisch für Ostdeutschland scheint aber eine eher hohe Risikoscheu zu sein, weil man in den Zeiten gravierender Umbrüche und hoher Arbeitslosigkeit erlebt hat, dass man – selbst ohne eigenes Zutun – sehr schnell auch alles verlieren kann.“

Trotz gegen Veränderungen

Ragnitz sieht eben darin auch eine Erklärung für den vergleichsweise hohen Zuspruch, den die AfD im Osten erfährt: „Müde von den Umbrüchen der letzten 30 Jahren scheint es sogar so, dass die Bewahrer des Status quo in weiten Teilen Ostdeutschlands eher stärker vertreten sind als anderswo, was eine Erklärung für den größeren Zuspruch zu Parteien rechts von der politischen Mitte sein könnte“, kommentiert er. „Gerade weil man in den vergangenen 30 Jahren so viele Schmähungen hat erleben müssen, gibt es einen gewissen Trotz gegen neuerliche Veränderungen und gleichzeitig die Sorge, dass ,das Lebenswerk’ nochmals gefährdet sein könnte.“

Autor: hw

Quellen: SMWA, ACTech, Oiger-Archiv, Ifo Dresden

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt