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Roboter ergründen die Wege der Menschen

Ingenieur Harald Heinrich von Infineon führt im Wandelbots-Studio in Dresden die neue Mensch-Erkennung für mobile Roboter vor. Heiko Weckbrodt

Ingenieur Harald Heinrich von Infineon führt im Wandelbots-Studio in Dresden die neue Mensch-Erkennung für mobile Roboter vor. Heiko Weckbrodt

Infineon rüstet seine Reinraum-Kobots mit KI und moderner Sensorik auf, um Vollbremsungen überflüssig zu machen

Dresden, 5. Juli 2021. Neuartige Sensoren und „Künstliche Intelligenz“ (KI) aus Dresden helfen Roboter und Mensch künftig, in Fabriken enger zusammenzuarbeiten, ohne sich gegenseitig zu behindern. Eine Beispiellösung dafür haben Infineon, Wandelbots, der Smart Systems Hub Dresden, SAP und „Objective partner“ in einer gemeinsamen „Digital Product Factory“ (DPF) entwickelt. Dadurch können selbstständig durch Chipfabriken rollende Roboter, die zum Beispiel das Reinraumwetter messen oder Siliziumscheiben (Wafer) in entlegene Hallenecken transportieren, nun flexibler Menschen ausweichen.

In den Dresdner Chipfabriken von Infineon werden viele „Industrie 4.0“-Prinzipien schon heute erprobt – auch das Miteinander von Roboter und Mensch. Foto: Infineon

Nachautomatisierung sicherte Wetttbewerbsfähigkeit europäischer Mikroelektronik

In den Dresdner Infineon-Fabriken war diese Herausforderung, neue Lösungen für das kollaborative Miteinander von Roboter und Mensch („Kobotik“) zu finden, besonders dringend geworden. Denn der bajuwarische Halbleiterkonzern hatte seine ersten Werke in Sachsen in den 1990ern gebaut, als nur wenig automatisierte Chipfabriken für 200-Millimeter-Wafer noch Stand der Technik waren. Um mit den neuen 300-mm-Fabriken weltweit Schritt zu halten, die in den folgenden Dekaden weltweit gleich hochautomatisiert aus dem Boden schossen, entschied sich Infineon für einen konsequenten Nachautomatisierungskurs: Automatisierungsspezialisten wie HAP, Roth & Rau und später Fabmatics aus Sachsen oder Metralabs aus Thüringen schlossen Automatisierungslücken und modernisierten die Fabriken soweit, dass sie auch im internationalen Vergleich konkurrenzfähig blieben.

Halbleiterfabrik voll mobiler Roboter

„Heute sind unsere Dresdner Fabs die am höchsten automatisierten 200-mm-Fabs weltweit“, schätzt Infineon-Ingenieur Harald Heinrich ein. „Wir haben fast 200 Roboter bei uns im Einsatz, ein großer Teil davon bewegt sich frei im Reinraum.“ Und eben diesen – mehr oder minder – autonom agierenden, kollaborativen Roboter (Kobots) widmete sich auch das jüngste Projekt des firmenübergreifenden virtuellen Entwicklungszentrums „Digital Product Factory“ in Dresden. „Unsere Kobots orientieren sich mit Lasern im Raum“, erklärt Heinrich. Dabei geschehe es oft, dass die Roboter eine Vollbremsung hinlegen, sobald sich ein Mensch auch nur nähert, um Unfälle zu verhindern. Doch besonders effektiv ist diese Lösung nicht: Manchmal queren die menschlichen Kollegen das Sichtfeld des Kobots nur, manchmal geht er oder sie in so großer Distanz vorbei, dass der Roboter eigentlich nur sicherheitshalber ein wenig hätte langsamer rollen müssen, ohne gleich zu stoppen. Doch herkömmlichen Robotern fällt es eben schwer, menschliche Absichten zu erkennen.

Die Künstliche Intelligenz in der nahen Rechnerwolke (Edge AI) führt die Daten der verschiedenen Sensoren im Roboter zusammen und schlussfolgert, ob sich da ein Mensch nähert oder entfernt. Foto (aus Live-Demonstration): Heiko Weckbrodt

Die Künstliche Intelligenz in der nahen Rechnerwolke (Edge AI) führt die Daten der verschiedenen Sensoren im Roboter zusammen und schlussfolgert, ob sich da ein Mensch nähert oder entfernt. Foto (aus Live-Demonstration): Heiko Weckbrodt

„Smart Systems Hub“ organisiert Ideenfabrik

Deshalb leitete das Unternehmen dieses Problem als Herausforderung – neudeutsch gerne „Challenge“ genannt, an die vom Smart Systems Hub Dresden koordinierte „Digital Product Factory“ weiter. Und tatsächlich fanden die Ingenieure, Sensorspezialisten und Software-Entwickler dort eine Lösung. Einerseits rüsteten sie die Kobots mit weiteren künstlichen „Sinnen“ aus, darunter Radarsensoren. Und sie verwendeten auch sogenannte „Time of Flight“-Sensoren (TOF), die Infineon selbst herstellt. Diese Sensorelektronik misst fortlaufend sehr genau die Zeit, die ein Lichtstrahl bis zu einem Hindernis und zurück braucht. Daraus lassen sich die Distanz zum Hindernis und – durch immer neue Messungen – auch Bewegungen ermitteln. Eine KI in einer nahen Rechnerwolke („Edge Cloud“) fusioniert dann all diese Sensordaten und sieht ihre Schlussfolgerungen: Quert dieser Mensch dahinten den Weg des Roboters, läuft er direkt auf ihn zu oder in weitem Bogen an dem Kobot vorbei? Dadurch lernt der stählerne Arbeiter, die Absichten seiner menschlichen Kollegen zu interpretieren und seine Bewegungen darauf anzupassen. „Und wenn der Roboter nicht jedes Mal stoppen muss, wenn ein Mensch naht, steigert das seine Produktivität“, betont Harald Heinrich.

Kobotik-Markt wächst besonders schnell

Und diese Lösung könnte Schule machen. Denn Kobotik gilt derzeit weltweit als großes Trendthema. „Der Markt für Industrieroboter wächst im Schnitt um fünf Prozent pro Jahr“, berichtet Projektleiter Hans Klingstedt vom Smart Systems Hub. „Und der Cobotics-Markt wächst um 20 Prozent pro Jahr.“

„Bis Research“ geht sogar von jährlichen Zuwachsraten um die 28 Prozent aus: Auf umgerechnet 568 Millionen Euro schätzte das niederländische Marktforschungsunternehmen die weltweiten Umsätze im Jahr 2020. Zur Mitte der Dekade würde der Kobotik-Markt demnach schon auf knapp zwei Milliarden Euro Umsatz kommen. Sollten sich diese Prognosen bewahrheiten, könnte dies auch für die Dresdner Lösung einiges Marktpotenzial eröffnen.

Autor: Heiko Weckbrodt

Quellen: Infineon, SSH, Wandelbots, SAP, Objective Partner, Bis Research, Oiger-Archiv

Zum Weiterlesen:

Kobotik: Roboter schaut sich Dreh beim Menschen ab

Prognose: Robotermarkt wächst 2021 kräftig

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt