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Vertikale Landwirtschaft: Dach-Gartenkugeln sollen Städter speisen

Prof. Michael Stelter vom Fraunhofer-Keramikinstitut IKTS kredenzt in Dresden frische Salate aus einem Prototypen künftiger vollautomatischer Gemüse-Fabriken im städtischen Raum. Foto: Heiko Weckbrodt

Prof. Michael Stelter vom Fraunhofer-Keramikinstitut IKTS kredenzt in Dresden frische Salate aus einem Prototypen künftiger vollautomatischer Gemüse-Fabriken im städtischen Raum. Foto: Heiko Weckbrodt

Fraunhofer-Keramikinstitut IKTS Dresden arbeitet an „Indoor Farming Units“, die vollautomatisch Tomaten, Rauke & Co. liefern

Dresden, 19. September 2023. Wenn Sie demnächst morgens aufwachen und die Dächer Ihrer Stadt sind mit geheimnisvoll leuchtenden Kugeln übersät, dann sorgen Sie sich nicht: Das sind höchstwahrscheinlich keine Alien-Eier, sondern vielmehr hat ihre Kommune wohl damit begonnen, ihren Lebensmittel-Nachschub auf vollautomatische urbane Gartenkugeln umzustellen. Mit solchen „Indoor Farming Units“ (IFUs) will nämlich das Dresdner Fraunhofer-Institut für Keramische Technologien und Systeme (IKTS) gemeinsam mit einem jungen Chemnitzer Unternehmen die Obst- und Gemüseversorgung großer Städte voranbringen und Lösungen für jene Regionen schaffen, in denen zunehmende Dürren die klassische Agrarwirtschaft auf Feldern in Zukunft nahezu unmöglich macht. Das hat der IKTS-Experte Prof. Michael Stelter angekündigt.

Forscher: Klimawandel wird Landwirtschaft vielerorts austrocknen

„Der Klimawandel ist ein zentraler Treiber für unsere Forschungen“, sagt Stelter. Denn absehbar sei, dass in vielen ostdeutschen Gegenden wie etwa der Lausitz in naher Zukunft auf natürlichem Wege nur noch so wenig Wasser verfügbar sein werde, dass vielerorts keine Landwirtschaft mehr machbar sein werde. Daher kombiniere das IKTS nun in wachsendem Maße seine Keramik-, Filter- und andere Technologien für neuartige Roboter-Gewächshäuser. Die sollen nur noch sehr wenig Fläche, Wasser und andere Ressourcen brauchen, um große Mengen an Obst, Gemüse, Gewürzen und anderen Speisezutaten nahezu ganz ohne menschliches Zutun zu liefern.

5-Meter-Dachkugeln sind erst der Anfang

Starten soll das mit Gartenkugeln, die dezentral und hochautomatisiert auf Hausdächern oder in Hinterhöfen Tomaten, Rauke, frische Salate und andere Gemüse und Kräuter wachsen lassen. Weil diese Kugeln weniger als fünf Meter hoch sind, lassen sie in den meisten Bundesländern ohne Extra-Genehmigung aufbauen, versichert der Professor. Später könnten sich daraus größere urbane Agrarfabriken entwickeln.

Dünger aus der Molkerei, Wasserverlust nahe Null und Sensordoktor für den Salat

Das Gesamtsystem soll einerseits aus dem kugelförmigen Gewächshaus bestehen, für das der Chemnitzer Hersteller wiederverwertetes Holz und transparenten Kunststoff einsetzt. Andererseits entwickelt das IKTS dazu die Steuer-, Versorgungs- und Kreislauftechnik, die weitgehend in einen kompakten Kasten passen soll. Dazu gehört beispielsweise ein Wassersystem, das den Dampf der Pflanzen in der Gartenkugel auffängt und wieder als flüssiges Wasser in den Kreislauf zurückspeist. Dieses System sei imstande, bis zu 97 Prozent des einmal eingespeisten Wassers zurückzugewinnen, versichert Stelter. Spezielle Keramikfilter, Membranen, Ozon-Einspeiser, Ultraviolett-Strahler und Ultraschall-Piezokeramiken säubern und desinfizieren das Wasser zudem ständig Auch mischt das System dem Wasser Nährstoffe bei. Den Dünger dafür wollen die Fraunhofer-Ingenieure perspektivisch aus Molkerei-Rückständen und Klärschlamm gewinnen. Hinzu kommen Regulierungssysteme für Licht, Wärme und Feuchtigkeit sowie spezielle Sensoren, die die Pflanzengesundheit überwachen.

Eine Modellanlage für die künftigen automatischen „Indoor Farming Units“, mit denen das Fraunhofer-Keramikinstitut IKTS Tomaten, Salate und Kräuter auf den Dächern der Städte züchten lassen will. Foto: Heiko Weckbrodt

Eine Modellanlage für die künftigen automatischen „Indoor Farming Units“, mit denen das Fraunhofer-Keramikinstitut IKTS Tomaten, Salate und Kräuter auf den Dächern der Städte züchten lassen will. Foto: Heiko Weckbrodt

100 Kilo besonders leckere Tomaten pro Quadratmeter versprochen

Zwar gibt es auch heute schon einzelne Beispiele für innerstädtische und vertikale Landwirtschaft. Bisher haben sich solche Systeme aber – vor allem aus Kostengründen – nicht nicht breit durchsetzen können. Michael Stelter ist allerdings überzeugt, dass die IKTS-Technologien in der richtigen Kombination dem „Vertical Farming“ einen neuen Schub geben können. Er verweist unter anderem auf den geringen Flächen- und Wasserverbrauch der bisher noch prototypischen Gartenkugeln. „Wir werden damit beispielsweise rund 100 Kilogramm Tomaten pro Quadratmeter ernten können. Und weil sie nicht mehr auf lange Transporte hin optimiert wachsen müssen, werden sie auch besser schmecken als viele heutige Gewächshaus-Tomaten aus dem Supermarkt“, verspricht er. Das ist übrigens mehr als eine bloße Behauptung: An einem – freilich kubischen statt kugelförmigen – Prototypen hat Stelter Kostproben von darin gewachsenen Blatt-Salaten, Rauke, Wasabi und anderen Pflanzen auf dem Dresdner Fraunhofer-Institutscampus an der Winterbergstraße bereits verteilt – und sie waren in der Tat auffallend wohlschmeckend, wie wir uns selbst überzeugen konnten.

Verzicht auf weite Transporte verbessert Ökobilanz

Ein weiterer Punkt, auf den der Professor gern verweist: Weil seine urbane Landwirtschaft ohne Transportkosten und weitgehend im Selbstlauf funktionieren soll, damit nur Personalkosten für Wartung oder korrigierende Eingriffe anfallen, könnten am Ende auch durchaus wettbewerbsfähige Preise stehen, meinem der Professor und sein Hightech-Gärtner Nico Domurath, der die bisherigen Prototypen betreut. Hinzu komme der ökologische Nutzen, weil eben ohne Lkw-Fahrten auskommt.

Enthusiasten als frühe Zielgruppe ins Auge gefasst

Wenn das Konzept ausgereift ist, wollen die Fraunhofer-Spezialisten das Gesamtsystem entweder über eine Ausgründung oder per Technologietransfer in die Wirtschaft für eine Serienproduktion zugänglich machen. Als erste Zielgruppe für die urbanen Gartenkugeln sieht Stelter zunächst Enthusiasten, die solch eine hochautomatisierte urbane Landwirtschaft schlichtweg ausprobieren wollen. Habe sich das System erst einmal bewährt, sei auch mit Unternehmenskunden zu rechnen– Supermärkte womöglich auch, die sich mit eigenem, lokal erzeugten Öko-Gemüse hervortun wollen. Und spätestens dann wird es auch nicht bei den Fünf-Meter-Kugeln bleiben, dann dürften ganze vertikale Obst- und Gemüsefabriken gefragt sein, die sich sogar in Baulücken in Städten platzieren lassen.

Autor: Heiko Weckbrodt

Quellen: Vor-Ort-Besuch IKTS, Auskünfte Stelter und Domurath, Oiger-Archiv

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt