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Frosch, Fuchs & Storch: Die „Steinmetzzeichen“ der DDR-Chips

Arndt Göbel war vor der Wende Testfeld-Designer im ZFTM Dresden. Hier zeigt er einen Entwurf mit seinem stilisierten Fuchs (unter den schrägen rosa Elementen). Foto: Heiko Weckbrodt

Arndt Göbel war vor der Wende Testfeld-Designer im ZFTM Dresden. Hier zeigt er einen Entwurf mit seinem stilisierten Fuchs (unter den schrägen rosa Elementen). Foto: Heiko Weckbrodt

Gewohnheit aus dem Mittelalter im Digitalzeitalter: Individuelle Tier-Signets der Entwickler sind in vielen Schaltkreisen versteckt

Dresden, 11. September 2023. Was haben ein Frosch, eine Eule, ein Hammer und eine Rakete gemein? Sie alle sind eine Art „Steinmetzzeichen“ des Digitalzeitalters. Denn ähnlich wie mittelalterliche Handwerker ihre ganz besonderen Zeichen in gotische Kathedralen gemeißelt haben, um sich für nachfolgende Generationen zu verewigen, bürgerte sich Ähnliches auch in vielen Mikroelektronik-Schmieden weltweit spätestens seit den 1970er Jahren ein. Auch in der DDR hinterließen die Dresdner Schaltkreis-Entwerfer heimlich kleine Kennungen zwischen mikroskopisch kleinen Schaltern und Leiterbahnen in „ihren“ Chips.

Wer genau hinschaut, sieht den Frosch: Die Kennung von Chip-Entwerfer Jens Knobloch ist neben der Schaltkreis-Typenbezeichnung "U 253" zu finden. Foto: Jens Knobloch

Wer genau hinschaut, sieht den Frosch: Die Kennung von Chip-Entwerfer Jens Knobloch ist neben der Schaltkreis-Typenbezeichnung „U 253“ zu finden. Foto: Jens Knobloch

Megabit-Entwurfschef Knobloch war für seinen Frosch bekannt

Wenn sie sich dabei raffiniert anstellten, schafften es diese individuellen Symbole – oftmals Tiere – sogar durch alle Endkontrollen und wurden dann durch die Maschinen in den Chipfabriken tausendfach oder gar millionenfach in die finalen Schaltkreise mit eingeätzt. Ein Beispiel ist der ostdeutsche Schaltkreis-Entwerfer Jens Knobloch, der schon lange vor der Jagd auf den Megabit-Chip gerne einen Frosch in seinen Schaltplänen versteckte.

Der ostdeutsche Megabit-Chip vom ZMD. Abb.: hw

Der ostdeutsche Megabit-Chip vom ZMD. Abb.: hw

Im aufgesägten West-Chip auf die kleinen Signets gestoßen

„Angeregt durch Fremdmusteruntersuchungen, bei denen ich auf verschiedenen Chips ,Steinmetz-Zeichen’ bemerkte, habe ich für mich einen stilisierten Frosch als Zeichen gewählt“, erinnert sich Knobloch, der jahrelang im VEB Zentrum für Forschung und Technologie Mikroelektronik (ZFTM, später: ZMD) arbeitete. „Zuerst gezeichnet auf dem Testfeld MT3, verwendete ich es erstmalig 1975 auf dem Chip des 1kDRAM U 253. Dieses Zeichen verwendete ich dann für alle meine Chipentwürfe, u.a. 1979 beim Mikroprozessorsystem U 83 bis 1988 auf dem Megabitspeicher U 61000.“ Zum Verständnis: „Fremdmusteruntersuchung“ bedeutete, Chips aus dem Westen aufzusägen, um dessen Schaltungen dann Schicht für Schicht zu analysieren. Danach ließen sich solche Schaltkreise entweder kopieren oder als Inspiration für eigene Entwürfe verwenden.

Arbeitsberatung im ZMD Anfang 1989 mit Jens Knobloch und dem Abteilungsleiter für Softwareentwicklung, Dr. V. Nitsche. Foto: privat via J. Knobloch

Arbeitsberatung im ZMD Anfang 1989 mit Jens Knobloch und dem Abteilungsleiter für Softwareentwicklung, Dr. V. Nitsche. Foto: privat via J. Knobloch

Eule war zu kompliziert – also sollte der Fuchs den Frosch fressen

Als sich Knoblochs Frosch-Signet herumsprach, löste dies neue inoffizielle, freilich eher freundschaftliche Wettbewerbe im Kollegenkreis aus. So liebäugelten die ZFTM-Entwickler Reinhard Kauert und Arndt Göbel in den 1980ern mit einer Eule, die sich den Frosch schnappt. „Die angedachte Eule war aber für eine Umsetzung in ein Layout zu kompliziert“, erzählt sich Göbel. „Reinhard Kauert hat dann für uns beide den Fuchs entworfen – es musste ein potenzieller Frösche-Fresser sein. Den nach Möglichkeit blauen Fuchs habe ich dann auch noch später, nach der Wende, bei Fraunhofer verwendet.“

Im DDR-Schaltkreis "U224" schickte Jens Knoblochs Kollege Dr. Günther den Storch auf Froschjagd. Foto: Jens Knobloch

Im DDR-Schaltkreis „U224“ schickte Jens Knoblochs Kollege Dr. Günther den Storch auf Froschjagd. Foto: Jens Knobloch

Auch der Storch jagte den Frosch

Auch andere Entwürfe referierten auf Knoblochs Leibtier: Im Speicherchip U224 beispielsweise fand sich 1984 ein Storch, der einen Frosch im Schnabel gepackt hatte. „Ein Gruß von meinem innerbetrieblichen Konkurrenten Dr. Günther“, berichtet Knobloch.

Jens Knobloch. Foto: privat via J. Knobloch

Jens Knobloch. Foto: privat via J. Knobloch

AMDs Vorschlaghammer zerschlug die Intel-Melodie

Ähnliche Bezüge auf inner- oder außerbetriebliche „Konkurrenten“ gab es übrigens auch international: Vor 20 Jahren gelang dem „ewigen“ Zweiten in der Prozessorbranche endlich der große Durchbruch. Mit dem Athlon und Opteron (Codename: „Sledge Hammer“, deutsch: Vorschlaghammer) überholte AMD zeitweise Intel im Wettrennen um die schnellsten Logikchips. Die Entwickler feierten dies mit einem mikroskopischen Ständchen: Sie integrierten in ihren Schaltplan als kleinen Bonus einen Hammer, der die Erkennungsmelodie von Intel schlug. „Der sollte den Intel-Dudel ,du-du-du-di-du’ zerhauen“, entsinnt sich der frühere AMD-Manager Gerd Teepe. „Da gab es also dann einen Hammer irgendwo im Design an versteckter Stelle, der auf Noten haute.“

Bernd Junghans. Foto: privat

Bernd Junghans. Foto: privat

US-Geheimbotschaft an sowjetische Klauer

„Designer haben sich ab und zu mal auch kleine Späße geleistet“, erzählt Bernd Junghans, der im ZMD unter anderem das Megabit-Projekt geleitet hatte. Gelegentlich waren solche „geheimen“ Botschaften in Chip-Layouts auch nicht mehr wirklich freundlich gemeint – so eine, die Junghans nur vom Hörensagen kennt – anscheinend eine geheime Botschaft der Amerikaner an die sowjetischen Klon-Spezialisten: „So hatten die Erfurter mal eine amerikanischen Schaltkreis untersucht auf dem in Russisch eingraviert war: ,Viel Spaß beim Kopieren’“, erzählt Junghans.

In kyrillischen Lettern verfasst

Womöglich ist damit auch eine Anekdote gemeint, die bereits Gerhard Barkleit in seinem Buch „Mikroelektronik in der DDR“ ausgegraben hatte: Demnach fanden die Ingenieure des VEB Mikroelektronik Erfurt in einem aus dem Westen besorgten und aufgesägten 32-Bit-Prozessor von DEC folgenden – in kyrillischen Buchstaben eingeätzten – Miniatur-Text unter dem Mikroskop: „CVAX… Wann hört ihr endlich auf zu klauen? Eigene Entwürfe sind besser“, schrieb da das VAX-Teams des US-Unternehmens. Überliefert ist dieser Fund in den Stasi-Archiven. In ähnlicher Form, allerdings unter Bezug auf einen Intel-Chip, berichtet darüber auch der ehemalige DDR-Elektronik-Staatssekretär Karl Nendel in seiner Autobiografie.

Auch Wolf und Mammut versteckten sich neben den Leiterbahnen

Doch zurück nach Dresden: Neben Frosch, Fuchs und Storch gibt es auch Berichte über ein ausgewachsenes Mammut in den ostdeutschen Schaltkreisen, über einen Ziegenbock, einen Bären und einen Wolf. Letzterer geht laut Göbel mutmaßlich auf den Entwerfer Thomas Wolf zurück, später habe wohl auch der Analogschaltungs-Entwerfer Gerd Bunk dieses Steinmetz-Zeichen verwendet.

Gerd Teepe. Foto: privat

Gerd Teepe. Foto: privat

Usus hielt sich nach der Wende

Nach der Wende haben sich diese Traditionen in der sächsischen Mikroelektronik gehalten. In Entwürfe des „Dresden Design Center“ von AMD beispielsweise schmuggelten die Designer gerne eine mikroskopisch kleine Frauenkirche ein. „Jeder Designer hat sowas in seinen Schaltungen versteckt“, erzählt der frühere DDC-Direktor Gerd Teepe. „Diese ,Steinmetzzeichen’ mussten allerdings Design-Regel-Konform sein – das erforderte immer einige Arbeit. Außerdem durften sie nicht elektrisch stören und so weiter.“ Wenn es seinen Entwicklern gelang, diese Forderungen einzuhalten, dann drückte Teepe auch mal ein Auge zu: „Ich habe als Manager das mit den Zeichen immer laufen lassen, denn schließlich wollte ich ja auch, dass sich die Designer mit ihren Chips identifizieren.“

Auch viele alte Uhren enthalten Zeichen ihrer Macher

Und eben das war und ist wohl auch ein Hauptgrund, warum sich diese Traditionen über so viele Generationen und Gewerke fortgesetzt haben. Denn es waren eben nicht nur die mittelalterlichen Steinmetze, die sich so verewigt haben. Auch in der Uhrenindustrie sind solche Traditionen bekannt: „Tatsächlich gab und gibt es auch bei (historischen) Uhren kleine Zeichen“, erklärt Sprecher Michael Hammer vom Deutschen Uhrenmuseum Glashütte. „Wenn man alte Uhren öffnet, findet man nicht selten auf der Innenseite des Rückdeckels klein eingekratzt solche Zeichen. Auch bei DDR-Armbanduhren wurde das mitunter gemacht. Allerdings kann man nicht sagen, dass das immer gemacht wurde und es gibt hier auch keine Systematisierung. Jeder Uhrmacher, der das macht oder früher gemacht hat, hat/hatte sein eigenes kleines Zeichen.“

„Signierung“ auch nach Reparatur üblich

Vor allem bei Reparaturen sei dies bis heute vielerorts üblich, meint auch Christian Engelbrecht im Namen von „Lange & Söhne“. „Kennzeichnungen werden in der Uhrmacherei üblicherweise als Reparaturzeichen verwendet. Derartige Kennzeichnungen finden sich aber bereits in historischen Taschenuhren.“ Der genaue Ursprung dieser Handwerkstradition sei der Uhren-Manufaktur aber nicht bekannt.

Steinhauer, Maler, Uhrmacher und Mikroelektroniker in einer Traditionslinie

Letztlich liegt es aber wohl in der Natur kreativen menschlichen Tuns, in irgendeiner Form im eigenen Werk ein individuelles Signet zu hinterlassen. Diese besondere Verbindung zur eigenen Kreation verbildlicht oder schreibt der Maler mit dem Pinsel, der Steinhauer mit dem Meißel, der Uhrmacher mit der Ahle – und der Mikroelektroniker eben mit der versteckten Anweisung an die Ätzanlage in der Chipfabrik. „Man wollte eine eigene Spur im Schaltkreis hinterlassen. Etwas Individuelles“, meint Arndt Göbel. „Sicher hat da auch Konkurrenzdenken hineingespielt. Aber wenn man als Gruppe ein gemeinsames Zeichen verwendet hat, dann hat das eben auch den Gemeinschaftsgeist gestärkt.“

Autor: Heiko Weckbrodt

Quellen: Auskünfte Knobloch, Göpel, Junghans, Teepe u.a., Deutsches Uhrenmuseum Glashütte, Karl Nendel: General der Mikroelektronik, Gerhard Barkleit: Mikroelektronik in der DDR, Heiko Weckbrodt: Innovationspolitik in der DDR, Oiger-Archiv, robotrontechnik.de, Technische Sammlungen Dresden

Liste mit einigen Steinmetzzeichen in Schaltkreisen:

  • Frosch: Megabit-Chefentwerfer Jens Knobloch (ZFTM/ZMD)
  • Storch mit Frosch im Schnabel: Dr. Günther (ZFTM/ZMD)
  • Fuchs: Arndt Göbel und Reinhard Kauert (ZFTM/ZMD)
  • Wolf: Thomas Wolf und Gerd Bunk (ZFTM/ZMD)
  • Radfahrer
  • Mammut/Elefant
  • Frauenkirche
  • Rakete
  • Hammer: (AMD)
  • Ziegenbock
  • Bär
  • Fliegenpilz
  • Kleeblatt
Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt