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Stahnsdorf: Die vergessene Leistungselektronik-Schmiede der DDR

 Silizium-Leistunstransistoren aus dem VEB Mikroelektronik "Karl Liebknecht" Stahnsdorf. Foto: Drahtlos, Wikipedia, CC4-Lizenz, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en

Silizium-Leistunstransistoren aus dem VEB Mikroelektronik „Karl Liebknecht“ Stahnsdorf. Foto: Drahtlos, Wikipedia, CC4-Lizenz

Noch vor dem AME Dresden entstand 1960 ein Halbleiter-Forschungsinstitut bei Berlin

Stahnsdorf/Dresden, 28. November 2021. Kommt heute die Rede auf die Anfänge der ostdeutschen Mikroelektronik, dann wird meist vor allem an Professor Werner Hartmann erinnert, der 1961 in Dresden die „Arbeitsstelle für Molekularelektronik“ gründete, aus der später die Chipschmiede ZMD hervorging. Bevor die sächsischen Ingenieure die ersten „Integrierten Schaltkreise“ der DDR entwarfen, gab es allerdings auch schon andere Elektronikproduzenten im Land – nur dass die eben einzelne Bauelemente und noch keine kompletten Chips herstellen konnten. Einer dieser inzwischen fast vergessenen Betriebe war das Halbleiterwerk Stahnsdorf bei Berlin, das sich vor allem auf Leistungselektronik für die ostdeutsche Industrie spezialisierte.

DDR wollte Elektronikfertigung zunächst im Großraum Berlin-Frankfurt/O. konzentrieren

Den DDR-Wirtschaftslenkern hatte ursprünglich vorgeschwebt, elektronische Bauelemente vor allem im Großraum Berlin zu konzentrieren. Denn dort hatte es schon vor dem Kriegsende bei Siemens, in der AEG und weiteren Konzernen wichtige elektrotechnische und elektronische Entwicklungen gegeben. Zu den Herstellern elektronischer Bauelemente gehörten beispielsweise das AEG-Werk in Berlin-Oberspree, aber auch das ehemalige Porzellanwerk in Teltow, das ab 1935 unter dem Namen Dralowid „Drahtlose Widerstände“ herstellte.

Entwicklung in Teltow, Produktion in Frankfurt

Aus Dralowid wurde 1952/53 der VEB Werk für Bauelemente der Nachrichtentechnik „Carl von Ossietzky“ in Teltow. Dort entwickelten und produzierten rund 150 Beschäftigte zunächst im Labormaßstab Halbleiter-Widerständen, Keramik- und Germaniumdioden begonnen. 1958 fiel die Entscheidung, die Halbleiterproduktion in Teltow auszubauen und die Großserienfertigung in Frankfurt an der Oder zu konzentrieren.

Forschung nach Stahnsdorf verlagert

Am 1. Januar 1960 entstand dann in Stahnsdorf das Institut für Halbleitertechnik (IHT), also bereits ein Jahr vor dem Dresdner AMD. Dieses Institut fünf Kilometer südwestlich von Teltow sollte sich fortan unter der Leitung von Prof. Matthias Falter auf die Entwicklung neuer Halbleiter-Bauelemente – vor allem aus Silizium-Germanium-Verbindungen – fokussieren, und diese dann in die Großserienproduktion nach Frankfurt überführen. Das IHT sollte indes nicht nur die elektronischen Bauelemente selbst designen, sondern auch neue Methoden für die Kristallzüchtung, Verfahrenstechnik und „Technologische Spezialausrüstungen“ für die Produktion entwickeln. Bis 1964 wuchs die Belegschaft hier von einigen Hundert auf rund 1200 Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker.

"Mein Mann war ein Arbeitstier", erinnert sich seine Witwe Renee Hartmann. Abb.: Archiv R.H.

„Mein Mann war ein Arbeitstier“, erinnert sich seine Witwe Renee Hartmann. Abb.: Archiv R.H.

Nach Ende der Flugzeugindustrie entstand Dresdner Mikroelektronik-Kern

Derweil führten allerdings technologische und wirtschaftliche Gründe dazu, dass sich die Elektronik-Entwicklung in der DDR aufteilte: Nach dem Abbruch der ehrgeizigen Flugzeugbau-Pläne in Dresden bekam dort Prof. Werner Hartmann endlich etwas mehr Gehör. Der Physiker hatte beizeiten erkannt, dass die Zukunft den integrierten Schaltkreisen gehört, die zahlreiche Bauelemente, Rechen- beziehungsweise Speicherfunktionen auf einem Chip vereinen. Sachsen spezialisierte sich in den folgenden Jahren auf die Mikroelektronik, während Brandenburg sich auf Dioden und andere Einzel-Bauelemente sowie Leistungselektronik fokussierte. Die Kristallzucht und Materialforschung übernahm Freiberg.

Stahnsdorfer Institut in Leistungselektronik-Fabrik umgewandelt

Auch das Profil in Stahnsdorf änderte sich: Aus dem Halbleiter-Forschungsinstitut wurde ein zweiter Produktionsstandort des Werkes Frankfurt/Oder. Das so entstandene „Gleichrichterwerk Stahnsdorf“ fokussierte sich vor allem auf Leistungselektronik, für die es eine steigende Nachfrage eben auch in der DDR gab: Ohne Elektronik, die selbst hohe Spannungen und starke Ströme aushält, waren moderne E-Loks, Kraftwerke, Industriemaschinen und auch viele Konsumgüter kaum noch machbar. Nach weiteren Ausbauphasen gliederte die SED-Wirtschaftsführung das Werk Stahnsdorf schließlich dem VEB Kombinat Mikroelektronik Erfurt zu, in dem vor allem die Massenproduktion von Mikroprozessoren und Spezialschaltkreisen hochgefahren wurde.

Russen-Raduga: Stahnsdorfer Transistoren im „Wohnungbrandsatz“ verbaut

In dieser Zeit arbeitete in Stahnsdorf auch der junge Physikingenieur Michael Raab, der später im ZMD am Megabit-Projekt beteiligt war und nach der Wende an der Entwicklung der ersten Gigahertz-Prozessoren bei AMD mitarbeitete. An die Leistungselektronik-Produktion in Stahnsdorf Ende der 1970er kann er sich noch gut erinnern: „Ich habe damals die Galiumdiffusion für Hochleistungstransistoren direkt an der Anlage übernommen“, berichtet Raab. „Das Gallium wurde bis in eine Tiefe von zirka 14 Mikrometern in die Siliziumscheibe hinein diffundiert. Diese Transistoren gingen zum Beispiel in den Fernseher ,Raduga’ ein, der wiederum manchmal so heiß geworden ist, dass es auch Brände gegeben hat.“

Noch 1988 neue Chipfabrik in Betrieb genommen

Weil aber auch in Stahnsdorf die Mikroelektronik im engeren Sinne des Wortes eine wachsende Rolle spielte, bekam das Gleichrichterwerk in den 1980ern einen neuen Namen: VEB Mikroelektronik „Karl Liebknecht“ Stahnsdorf (MLS). Der Schwerpunkt blieb zwar die Leistungselektronik, die ab 1988 aber in einer neueingerichteten Chipfabrik mit Methoden der Mikroelektronik produziert wurde. Bis 1989 stieg die Belegschaft auf rund 3000 Beschäftigte.

Nach der Wende zerlegt und abgewickelt

Nach der Wende zerlegten die Treuhand und teils auch die Mitarbeiter per Ausgründung den Elektronikgroßbetrieb in zwölf Einzelgesellschaften. 1992 liquidierte die Treuhand schließlich den Hauptbetrieb, die „Leistungselektronik Stahnsdorf AG“. Etwas länger Bestand hatte die „HBB Halbleiterbauelemente GmbH“. Das Unternehmen beschäftigte zuletzt 64 Mitarbeiter, konnte sich aber nicht am Markt behaupten. Ende April 1996 musste auch die HBB schließen.

Sensorfirmen erinnern heute noch an Elektronik-Vergangenheit von Stahnsdorf

Während aus Hartmanns Institut in Dresden bis heute Europas führender Mikroelektronik-Produktionsstandort gewachsen ist, kündet inzwischen in Stahnsdorf nur noch wenig an die ambitionierte Hochtechnologie-Vergangenheit. Völlig ausgestorben ist die Elektronikindustrie am Standort allerdings nicht: So produzieren in Stahnsdorf heute beispielsweise knapp 200 Mitarbeiter in einem Kompetenzzentrum der „Endress+Hauser“-Gruppe siliziumbasierte Drucksensortechnik. Auch die Unternehmen „D-Sensors“ und „SENPRO Sensortechnik“ stellen im Ort Sensoren her. Ansonsten scheint für den Ort selbst die eigene Mikroelektronik-Vergangenheit kaum noch eine Silbe wert zu sein – auf der Stahnsdorfer Gemeinde-Internetseite zumindest wird das einstige Halbleiterwerk noch nicht mal erwähnt.

Autor: Heiko Weckbrodt

Quellen: Industriemuseum Region Teltow, Wikipedia, Auskünfte M. Raab, VDE, Oiger-Archiv

 

Kommentar

Sehr geehrter Herr Weckbrodt,

in früheren Zeiten habe ich des öfteren in Ihren Veröffentlichungen gelesen
und auch einiges an Infos als gut und richtig bewertet.
Als Zeitzeuge und Buchautor von „Die Geschichte der
Mikroelektronik/Halbleiterindustrie der DDR“ schaue ich natürlich ab und zu
mal, was andere so schreiben und dabei bin ich zufällig auf Ihren o.g.
Artikel gestoßen.
Da sind jedoch eine ganze Menge Unwahrheiten drin, die man so einfach
nicht stehen lassen kann.
Nur z.B.,
im „Raduga“ – ein Farbfernseher aus der UdSSR, welcher noch tw. mit Röhren
bestückt war (der ebenfalls importierte „Rubin“ war übriges noch vollständig
mit Röhren ausgestattet) waren niemals Leistungstransistoren aus Stahnsdorf
eingesetzt.
Die Leistungstransistoren aus Stahnsdorf kamen in unseren
volltransistorisieren Farbfernsehern aus Staßfurt zum Einsatz – siehe
dazu -> http://www.ps-blnkd.de/Hochspannungstransistor.pdf

Es ist auch nicht richtig, daß das Halbleiterwerk in Stahnsdorf sang und
klanglos abgewickelt wurde, sondern die Treuhand hatte es fertig gebracht
ausgerechnet vom westdeutschen Konkurrenten SIEMENS „Berater“ nach
Stahnsdorf zu schicken, die zwar sehr gern die Kundenkartei in Besitz
nahmen, aber ansonsten dem Werk nur „alles marode“ und „Abwicklung“
bescheinigten – obwohl gerade kurz vorher noch moderne
Fertigungsanlagentechnik für teures Westgeld „beschafft“ wurde. Beschafft
deshalb, weil insbesondere sowas unter dem COCOM-Embargo stand. Richtig ist,
daß es einige Ausgründungen gab, aber das Hauptwerk selbst ist an einen
indischen Unternehmer privatisiert worden. Der hatte jedoch das neue
Lohngefüge in Ost-Deutschland völlig unterschätzt – mit der Folge, daß er
1994 veranlasste alles zusammenzupacken und nach Indien zu verbringen.
Die deutschen Arbeitnehmer gingen – wie vielfach woanders auch – leer aus!

Von „vergessener Leistungselektronik-Schmiede“ kann auch keine Rede sein ->
https://imt-museum.de/de/home, dort wird das historische Erbe vom GWS
bewahrt, wobei GWS(MLS) „nur“ die Halbleiter-Bauelemente produzierte –
die komplizierte Gerätetechnik machten andere, so z.B LEW in Hennigsdorf bei
Berlin.

So viel erst einmal … falls Sie weitere Fragen haben – gern.

Grüsse aus Berlin

Peter Salomon
www.ps-blnkd.de

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt

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