Werner Hartmann begründete die Mikroelektronik in Dresden – und kam durch eine Stasi-Intrige zu Fall
„It’s all about people“, erklärte AMD-Chef Jerry Sanders 1998 auf die Frage, warum ein US-Konzern in Dresden eine Chipfabrik baue – der Knackpunkt sind die Menschen. Den Grundstein für dieses Dresdner Reservoir fähiger Mikroelektroniker legte Professor Werner Hartmann, als er vor 50 Jahren, am 1. August 1961, die „Arbeitsstelle für Molekularelektronik“ (AME) in Dresden gründete. Damit beschäftigte er sich als einer der ersten Anwendungsforscher in Europa systematisch mit Integrierten Schaltkreisen (ICs), einer Erfindung, die Jack Kilby eineinhalb Jahre zuvor in den USA gemacht hatte. Hartmann wurde in den Folgejahren mit Preisen und Ehrungen überhäuft. Bis zum Sommer 1974, als er plötzlich abberufen und zum Verfemten wurde. Wer war aber dieser Mann und was führte zum verordneten Vergessen?
Von Heiko Weckbrodt
1912 in Berlin als Sohn eines Malers und einer Näherin geboren, finanzierte Hartmann sein Physikstudium mit Nebenjobs als Taxifahrer, Dolmetscher und Bauhelfer. 1935 wurde Nobelpreisträger Gustav Hertz auf den fähigen Nachwuchswissenschaftler aufmerksam und holte ihn in sein Siemens-Labor. Nach Kriegsende wurde Hartmann – wie so viele andere deutsche Wissenschaftler – in ein Flugzeug verladen und musste die nächsten zehn Jahre mithelfen, die sowjetische Atombombe zu entwickeln.
Aus einem Beschluss der MfS-Bezirksverwaltung Dresden vom 20. Dezember 1965: „Hartmann wurde bereits 1955-1958 und 1959-1962 wegen Verdacht der Schädlingstätigkeit operativ bearbeitet“
1955 kehrte er in ein geteiltes Deutschland zurück und entschied sich für die DDR, die damals „bürgerliche Spezialisten“ wie ihn umwarb und als „Leistungsadel“ behandelte. Hartmann dufte – nach heftigem Streit mit Manfred von Ardenne – ab 1955 mit dem VEB Vacutronik einen der ersten Wissenschaftlich-technischen Spezialbetriebe der DDR aufbauen. Der war mit seiner Vakuumtechnik so erfolgreich, dass der Vacutronic-Stand auf der Leipziger Messe 1959 gar einen lobenden Besuch des sowjetischen Parteichefs Nikita Chruschtschows bekam. Im selben Jahr folgte der erste Nationalpreis.
Zwei Jahre später erwirkte Hartmann den Auftrag, ein Industrieinstitut für neuartige Elektronik aufzubauen. Anfangs schwankte er, welcher technologischer Weg zu beschreiten sei, kam dann aber recht rasch zur Überzeugung, dass der Festkörperelektronik à la Kilby mittel- und langfristig die Zukunft gehöre. Am 1. August 1961 gründete er in Dresden die „Arbeitsstelle für Molekularelektronik“, die später zum „Zentrum Mikroelektronik Dresden“ (ZMD) werden sollte.
Betriebe zogen Bauarbeiter immer wieder vom Institut ab
Doch die Gründung war zunächst kaum mehr als eine Papiergeburt. In einem frustrierten Beschwerdebrief aus dem Jahr 1965 schätzte er ein, dass das Institut erst 1963/64 wirklich arbeitsfähig geworden war: Weil das Projekt zunächst kaum Priorität genoss, musste Hartmann zwei Jahre warten, bis er überhaupt ein Gebäude in Flughafennähe bekam. Man nahm ihm immer wieder die Bauarbeiter weg, Carl Zeiss Jena weigerte sich wegen anderer, „wichtigerer“ volkswirtschaftlicher Verpflichtungen, Optiken und Masken für das Chip-Labor zu konstruieren. Andere Betriebe zeigten sich völlig außerstande, die von Hartmann benötigten Hochtechnologieausrüstungen und –materialien zu liefern. Der VEB Spurenmetalle Freiberg war erst 1963 im Stande, die ersten brauchbaren Siliziumscheiben („Wafer“) bereit zu stellen. Wie komplex die Vorlaufkette für diese neue Hochtechnologie war, erkannte auch Hartmann erst nach und nach. Und auch, wie viele Voraussetzungen dafür in der DDR-Industrie fehlten. So begann das AME, selbst Anlagen für die Chipproduktion zu entwickeln (dies war auch der Ausgangspunkt für den späteren VEB Elektromat Dresden) – Anlagen, die Hartmanns West-Kollegen problemlos kaufen konnten, um sich ganz auf die Schaltkreisentwicklung zu konzentrieren. Und so dauerte es lange – für viele Funktionäre zu lange – bis Hartmann 1968 den ersten funktionsfähigen Labor-Schaltkreis vorlegte.
Protektor Erich Apel nahm sich 1965 das Leben
Nach außen hin wurde er umjubelt, trat in einem Fernsehfilm auf, wurde immer wieder ausgezeichnet. Doch im Hintergrund zog sich die Schlinge bereits enger und enger. Dies hatte auch mit Machtverschiebungen auf höchster Ebene zu tun: In der SU hatte 1964 der große Stagnator Leonid Breschnew den aufgeschlossenen Chruschtschow abgelöst. Der neue Kreml-Chef vermochte dem Kybernetik- und Techno-Mann Walter Ulbricht in der DDR wenig abzugewinnen.
Zudem hatte Hartmann lange unter dem Schutz des Wirtschaftsreformers Erich Apel gestanden, der als Chef der Staatlichen Plankommission dafür sorgte, dass das AME höhere Prioritäten bei Ressourcenzuteilungen bekam. „Apel war befreundet mit meinem Mann“, erinnert sich Hartmanns Witwe Renee Gertrud Hartmann. „Er war der erste Ansprechpartner in Berlin.“ Doch 1965 nahm sich Apel das Leben und fortan bekam es Hartmann mit Günter Mittag zu tun, dem späteren De-facto-Vize von Erich Honecker. Und Mittag war Hartmann fast feindlich gesinnt, so Renee Hartmann.
Nachdem Erich Honecker 1971 Ulbricht ablöste und einen neuen Kurs einleitete, schlug sich das auch in Dresden nieder: Das 1969 in „Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden“ (AMD) umbenannte Institut wuchs zwar personell weiter (bis zu Hartmanns Ablösung 1974 auf rund 1000 Mitarbeiter), doch die Mittel wurden immer mehr zusammengekürzt: Standen dem AMD 1969 noch knapp 59 Millionen DDR-Mark Forschungsmittel zur Verfügung, drittelte sich diese Summe bis 1973 auf 18 Millionen Mark, während die Investitionszuweisungen von zeitweise 25 Millionen auf schließlich nur noch 1,5 Millionen Mark sanken – angesichts der mit jeder Chipgeneration steigenden Kosten für Mikroelektronikausrüstungen wohl eher eine Fehlentscheidung.
Spitzel, „Romeos“ und Hausdurchsuchungen
Hinzu kam ein anderer Faktor: „Mein Mann war ein regelrechtes Arbeitstier“, meint seine Witwe. „Er war ein Irrläufer in der DDR. Ein Preuße, der dachte: Ich bin Physiker, allein das ist wichtig. Mit Ideologie hatte er nichts am Hut“. Und dies wurde ihm wohl auch zum Verhängnis: Anders als zum Beispiel sein Kollege Manfred von Ardenne vermochte er es auf Dauer nicht, sich mit der Parteiführung gut zu stellen. Er engagierte seine Mitarbeiter nach fachlicher Qualifikation und nicht nach Parteibuch. „Die Parteiorganisation musste im Institut über viele Jahre um elementare Mitspracherechte kämpfen, ehe eine führende Rolle durchgesetzt werden konnte!“, ereiferte sich beispielsweise 1975 ein Ingenieur H., der hinter Hartmanns Rücken für die Stasi spitzelte.
Und die hatte den „bürgerlichen Spezialisten“ schon lange im Visier: Die ostdeutschen Schlapphüte hielten Hartmann für einen „Gegner der SU“, hatten bereits 1955 eine Spionageuntersuchung „Tablette“ gegen den Physiker angestrengt. Ihre Indizien: Die Tabletten, die Hartmann aus gesundheitlichen Gründen während seiner SU-Zeit von daheim zugeschickt bekam, enthielten angeblich „Substanzen, die auch der amerikanische Geheimdienst verwendet“.
Ebenso wie der späteren Überwachungsvorgang „Kristall“ (1959-62) verliefen diese Untersuchungen im Sande. Doch 1965, als Hartmanns Protektor Apel tot war, leitete die Stasi den „Operativvorgang Molekül“ ein. Ob das Ministerium für Staatssicherheit nach eigenem Ermessen ermittelte oder auf höhere Weisung, ist aus den Akten nicht klar ersichtlich. Hartmanns Witwe ist heute aber überzeugt: „Da steckte Mittag dahinter.“
Die Stasi durchwühlte in den folgenden Jahren immer wieder Hartmanns Wohnung, hörte ihn ab, setzte Spitzel auf ihn an, schickte gar einen falschen „Romeo“ zu Hartmanns damaliger Gattin. Ziel: „Die vorhandenen Verdachtsmomente der Spionage für den amerikanischen Geheimdienst gegen den Beschuldigten zu erhärten und eine Feindtätigkeit nachzuweisen.“ Maulwürfe bestätigten der Stasi Hartmanns angebliche „Sowjetfeindlichkeit“. Woran sie das festmachten? Statt von den „Erfahrungen der sowjetischen Freunde zu lernen“ und alle Westkontakte abzubrechen, hatte Hartmann darauf bestanden, dass der Austausch mit internationalen Kollegen – auch aus dem Westen – essenziell sei, um die junge ostdeutsche Mikroelektronik voran zu bringen…
Die Falle schnappt zu
1974 schnappte die Falle dann zu: Als Hartmanns Kollege I. in den Westen zu flüchten versuchte, wurde der Institutschef erst beurlaubt und am 11. Juli 1974 entlassen. Eine „subjektive Schuld“ – also Spionage – konnte die Stasi Hartmann letztlich nicht anhängen. Eine „objektive Schuld“ im realsozialistischen Sinne – nämlich „mangelnde Wachsamkeit“ und „Unterschätzung des Feindes“ – sah sie aber als erwiesen an.
Es folgte ein sozialer Abstieg, und der war tief: Hartmann verlor seinen Dienst-Tatra, wurde fortan nirgendwo mehr erwähnt und musste sein Brot als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Freiberg verdingen – an einem Schreibtisch, den er sich mit einem Parteisekretär und den mittagessenden Sekretärinnen teilte. An- und Abreise natürlich mit dem Arbeiterfahrschein per Eisenbahn.
Major H., MfS Berlin, 1975, nach der Ablösung Hartmanns: „Die führende Rolle der Partei beginnt sich in der Arbeitsstelle durchzusetzen.“
Wie stark auch der Schleier des Vergessens nachwirkte, den SED und Stasi über den Mikroelektronik-Pionier legten, zeigt eine interne Aktennotiz aus dem Büro Mittag aus dem Jahr 1986. Da hieß es, die Mikroelektronik sei von der SED innerhalb von zehn Jahren „buchstäblich aus dem Boden gestampft“ worden – da bezog man sich eindeutig auf die „Wiederentdeckung“ dieser Technologie durch die Parteiführung in den Jahren 1976/77 – vom AME war da keine Rede mehr.
Hartmann starb 1988 als gebrochener Mann in Dresden.
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