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Wie Dresden die höflichsten Straßenbahnen Deutschlands bekam

So stellte sich Zeichner Richard Bolbe eine Pferdebahnfahrt über die Augustusbrücke um 1890 vor. Bis zur Brückemmitte führte ein Reiter das Gespann der gelben Bahn an. Repro aus: Straßenbahnen in Dresden

So stellte sich Zeichner Richard Bolbe eine Pferdebahnfahrt über die Augustusbrücke um 1890 vor. Bis zur Brückemmitte führte ein Reiter das Gespann der gelben Bahn an. Repro aus: Straßenbahnen in Dresden

Das Buch „Straßenbahnen in Dresden“ widmet sich den Linien im Westen der Stadt

Dresden. Im antiken Rom gab es im Circus Maximus vier nach Farben benannte Rennställe, die bei allen Rennen miteinander konkurrierten, wobei bis zu drei Wagen eines Rennstalles an einem Rennen teilnehmen konnten: Es gab die Grünen (prasina, in der Farbe des Frühlings), die Roten (russata, in der Farbe des Sommers), die Blauen (veneta, in der Farbe des Herbstes) und die Weißen (alba, in der Farbe des Winters). Man hatte also die Qual der Wahl, auf wen man denn Geld bei einem Rennen setzen wollte.

Private und städtische Bahnen auf der Schiene

Als die Straßenbahn in der sächsischen Residenzstadt Fahrt aufnahm, hatten auch die Dresdner anfangs die Wahl, wenn auch eine auf zwei Möglichkeiten deutlich reduzierte. Da waren zum einen die gelben Wagen der „Tramways Company of Germany Ltd.“ (ab 1894 dann „Dresdner Straßenbahn-Gesellschaft“), zum anderen die roten Wagen der „Deutsche Strassenbahngesellschaft in Dresden“, die gegründet worden war, weil es zwischen den Dresdner Stadtvätern und der englischen Gesellschaft zu Differenzen gekommen war. Konkurrenz belebt das Geschäft dachte man sich wohl. Aber so richtig ins Gehege kamen die jeweiligen Bahnen sich ohnehin nicht.

Das Zentrum für die Gelben, die Vororte für die Roten

Wie man im neuen Buch „Straßenbahnen in Dresden“ erfährt, durften die „Gelben“ in der ersten Hälfte der 1890er Jahre die am stärksten frequentierten Linien der Stadt bedienen, während die Linien der „Roten“ in Nebenstraßen sowie in noch nicht erschlossenen Vororten herumzuckelten. Die Dresdner Straßenbahn-Gesellschaft betrieb im Jahr 1901 schließlich elf Linien, die Deutsche Straßenbahngesellschaft, die bis 1900 vollständig zum elektrischen Betrieb übergegangen war, deren zehn. Vier Jahre später kauft die Stadt Dresden die beiden Privatgesellschaften. Ab dem 1. Januar 1906 fuhr die Dresdner Straßenbahn als städtischer Betrieb.

Ein elektrischer Drehtgestellwagen vom Typ "Großer Kurfürst" und weitere elektrische Straßenbahnen rollen über den Postplatz vor der Zerstörung 1945. Rechts ist die Sophienkirche zu sehen, hinter dem Kronentor ragt der Schornstein des "Staatlichen Fernheiz- und Elektrizitätswerkes" empor. Repro aus: Straßenbahnen in Dresden

Ein elektrischer Drehtgestellwagen vom Typ „Großer Kurfürst“ und weitere elektrische Straßenbahnen rollen über den Postplatz vor der Zerstörung 1945. Rechts ist die Sophienkirche zu sehen, hinter dem Kronentor ragt der Schornstein des „Staatlichen Fernheiz- und Elektrizitätswerkes“ empor. Repro aus: Straßenbahnen in Dresden

Die Welt im Zukunftsfieber

Man lebte in einer Zeit, als sich in aller Welt die Städte industrialisierten, modernisierten und vergrößerten, weshalb ein tragfähiges Verkehrssystem vonnöten war. Man war im Zukunftsfieber und die strombetriebene Tram modern, das war in Dresden nicht anders als in München oder New York, wo man alsbald aber nur noch auf die U-Bahn setzte. Der städtische Betrieb Dresden unterschied übrigens – ein Erbe der beiden Privatgesellschaften – noch während des Ersten Weltkrieges strikt in „gelbe“ Linien mit ungerader Nummer und in „rote“ Linien mit gerader Nummer.

Viele Bilder verdeutlichen die Veränderungen im Stadtbild

Das von André Marks herausgegebene Werk ist der Auftaktband einer Buchreihe, die sich systematisch mit den nach 1945 in Dresden noch vorhandenen Straßenbahnstrecken beschäftigen und ihre Entwicklung bis in die 1990er Jahre mit vielen wertvollen Bilddokumenten und Grafiken beschreiben soll. In diesem Band werden die Linien vorgestellt, die vom Postplatz im Herzen der Stadt jeweils in Richtung Westen ratterten, rumpelten und rüttelten. Zunächst legt Norbert Kuschinski, der langjährige Sammlungsleiter „Städtischer Nahverkehr“ des Dresdner Verkehrsmuseums, die Entwicklung der Dresdner Straßenbahn ab 1872 dar. Vier der fünf Einführungstexte sowie den Großteil der in diesem Buch veröffentlichten Bildtexte steuerte der in der Dresdner Antonstadt lebende Straßenbahnfreund (und womöglich auch „Streetcar-Spotter“) Jöran Zill bei. Von Frank Feder stammt das Kapitel über die Straßenbahn in Gorbitz, er zeichnete auch alle Streckengrafiken.

Die Bildtexte sind erhellend, bei mancher Aussage könnte man nachhaken. Wenn etwa zu einem Foto vermerkt wird, dass am Endpunkt in Cossebaude fast zehn Gäste einen Beiwagen verlassen, dann sagt das nicht aus, dass die Linie generell gut ausgelastet war.

Über 700 historische Fotografien

Das Werk beeindruckt nicht zuletzt durch seine Bilderfülle. Mehr als 70 Bildgeber steuerten mehr als 700 Fotografien aus alten Zeiten bei, die Zeitreisen in die verschiedensten Epochen der jüngeren Vergangenheit Dresdens ermöglichen. Denn die Aufnahmen stammen schwerpunktmäßig aus den vier Jahrzehnten der DDR sowie vereinzelt auch aus der Zeit davor und aus den 1990er Jahren.

1988 werden zwei Gründerzeithäuser an der Weißeritzbrücke gesprengt. Foto: Frank Ebermann, aus: Straßenbahnen in Dresden

1988 werden zwei Gründerzeithäuser an der Weißeritzbrücke gesprengt. Foto: Frank Ebermann, aus: Straßenbahnen in Dresden

Blick auf den Wandel im Stadtbild

Im Mittelpunkt stehen nicht allein Schienenstrecken im Westen der Stadt und die auf ihnen fahrenden Fahrzeuge, „sondern stets auch die Bebauung der durchfahrenen Straßen und überquerten Plätze“, wie Herausgeber André Marks anmerkt. In den Bildtexten gehen die Autoren auch auf architektonische Besonderheiten und die Nutzung von Gebäuden als Gaststätten, Geschäfte und Betriebe ein. Deutlich werden dabei auch die Veränderungen im Stadtbild. So verschwand das „Palasthotel Weber“ am Postplatz, das selbst als Ruine noch imposanter gewesen war als das Gros der DDR-Neubauten. Vier auf einer Buchseite abgedruckte Aufnahmen der Kreuzung von Löbtauer Straße und Weißeritzstraße sowie Schweriner Straße und Schäferstraße belegen den dramatischen Wandel der Friedrichstadt durch die Flächenabrisse in den 1980er Jahren. Es hatte in der Friedrichstadt durchaus Kriegsschäden gegeben, aber die historische Struktur des Viertels war weitgehend intakt geblieben – nichts davon war nach den Flächenabrissen übrig. Gesprengt wurden am 17. März 1988 auch zwei einst prachtvolle, aber im einen Fall durch den Krieg, im anderen Fall durch die sozialistische Mangelwirtschaft zu Ruinen gewordene Gründerzeithäuser an der Weißeritzbrücke. Sie mussten für den Bau einer Hochstraße in Verlängerung der Nossener Brücke weichen.

PA-Schüler feilten Fahrschein-Schlitze auf

Immer wieder sind es die kleinen Details, die entzücken. Klar, man hätte es sich denken können. Aber hier bekommt man es nun Schwarz auf Weiß zu lesen, dass die alten Augustusbrücke aus ästhetischen Gründen keine Oberleitungsanlage erhielt. Deshalb waren alle die Brücke nutzenden Linien mit einem Akkumulator-Triebwagen zu bestücken, Dazu gehörte auch die Linie zwischen dem Postplatz und Pieschen, die ab 1906 Linie 17 hieß. Ins Gedächtnis geholt wird auch, dass die Verkehrsbetriebe in Dresden erst 1988/89 die in der DDR schon weit verbreiteten breiten Fahrscheine einführten – wofür Schüler ab der 7. Klasse im Unterrichtsfach PA (Produktive Arbeit) im Schreibmaschinenwerk an der Hamburger Straße die Einführschlitze der Entwerter auf das neue Format auffeilen „durften“.

„Ohne Schaffner, mit Zahlbox“

Ein Kapitel widmet sich auch dem Straßenbahnhof Gohlis. Bei der Eröffnung 1906 existierte zunächst nur die linke Halle, im Jahr 1927 wurde dann die rechte Halle mit ebenfalls vier Gleisen ergänzt. Die Verkehrsbetriebe stellten im Straßenbahnhof Gohlis ab 1967 nur noch ausgemusterte Wagen ab, er wurde aber auch noch als Wendedreieck für die Linie 51 gebraucht. Für eine Gedächtnisauffrischung sorgt eine Aufnahme, die nicht nur einen Großzug der Linie 8 zeigt, der die Haltestelle Otto-Franke-Straße ansteuert, sondern auch – angeschnitten – jenen Schallplattenladen auf der Kesselsdorfer Straße, der zu DDR-Zeiten unter Jugendlichen Kultstatus genoss, bekam man hier doch (zumindest gelegentlich) anderenorts vergeblich gesuchte Schätze und „Bückware“ aus dem Angebot von Amiga und Eterna, wie die maßgeblichen Labels früher hießen. „Platten“? Die Generation Spotify mag bei dem Wort fragend Stirn runzeln, alle anderen werden sich zumindest dunkel erinnern. Ältere Dresdner werden sich auch an jener Schilder mit der Aufschrift „OS, Ohne Schaffner, mit Zahlbox“ entsinnen, die bis zur Einführung des Entwerterbetriebes 1973 an allen Straßenbahnen angebracht waren.

Berlin kassierte die Gotha-Großraumwagen ein

Erstaunlich dürfte für das Gros der Leser sein, was sich an Wagen über die Jahrzehnte hinweg tummelte. Nicht alles war eine Erfolgsgeschichte. So erschien 1960 in Dresden ein in Gotha gebauter Prototyp eines Gelenktriebwagens – wegen einiger Kinderkrankheiten war er alles andere als populär. Deshalb absolvierte er alsbald nur noch Stadtrundfahrten und landete 1970 auf dem Schrottplatz. Es wurden später aber noch andere Wagen der „Gotha“-Klasse eingesetzt. Als Mitte der 1970er Jahre in Berlin Gotha-Wagen grundinstandgesetzt wurden, erhielten diese eine braune Bauchbinde mit Zierspitz, wodurch sie sich von anderen Gotha-Wagen abhoben. In den Dresdner Werkstätten wurde aber diese Änderung umgehend rückgängig gemacht. Die eleganten Gotha-Großraum-Triebwagen vom Typ T4-62 verkehrten nicht mal ein ganzes Jahrzehnt auf Dresdner Gleisen, dann mussten sie in die „Hauptstadt der DDR“ abgegeben werden.

Die Tatra-Wagen prägten eine Ära

Eine ganze Ära prägten hingegen die Tatra-Wagen. Sie trugen bis auf wenige Ausnahmen die übliche Lackierung rot-elfenbein des Prager Herstellerwerks. Erst 1988 entstand der Plan, sie in Dresden auf die Stadtfarben gelb-schwarz umzulackieren. Zum Pinsel musste man gelegentlich schon in den 1980ern greifen. Eine Aufnahme bezeugt die unterschiedlichsten Dachlackierungen an Tatra-Bahnen. Aufgrund der starken Verschmutzung durch den Bügelabrieb zogen die Verkehrsbetriebe den dunklen Dachanstrich in Dresden nachträglich bis auf die Dächer der Front- und Heckkanzeln vor.

Gleise bis zum Ende der DDR völlig heruntergefahren

Am Ende der DDR waren trotz wiederholter Reparaturen die meisten Gleisanlagen in einem abenteuerlichen Zustand, berühmt-berüchtigt war insbesondere die Hamburger Straße. Vor allem die Zweiachser vollführten wahre Schaukelfahrten, was dazu führte, dass im Volksmund der Spruch „Dresden hat die höflichsten Straßenbahnen. Sie verneigen sich in alle Richtungen!“ auftauchte.

1968 entsteht diese Aufnahme von einem "Hecht", der in den Straßenbahnhof an der Waltherstraße einrückt. Im Hintergrund ist ein Schornstein des Schreibmaschinenwerks zu sehen. Repro aus: Straßenbahnen in Dresden

1968 entsteht diese Aufnahme von einem „Hecht“, der in den Straßenbahnhof an der Waltherstraße einrückt. Im Hintergrund ist ein Schornstein des Schreibmaschinenwerks zu sehen. Repro aus: Straßenbahnen in Dresden

Gotha, Hecht und Tatra sind heute nur noch bei Nostalgiefahrten zu sehen

Heute touren – außer bei Nostalgiefahrten – in Dresden weder Tatra-Bahnen noch Gotha-Wagen. Das ist gar nicht so selbstverständlich: In Mailand beispielsweise fährt immer noch die knallgelbe „Ventotto“, die „Achtundzwanzig“, die vor über 100 Jahren patentiert und vor 90 Jahren konstruiert wurde und in Würde gealtert ist. Manch straßenbahnbegeisterter Dresdner mag sich ein ähnliches Schicksal auch für den legendären „Hecht“ wünschen. Denn wohl kein anderer Triebwagen gehört wohl so sehr zur Stadt wie dieser Straßenbahntyp, der Ende der 1920er Jahre von der Dresdner Straßenbahn AG, der Waggonbaufirma Christoph & Unmack in Niesky und der Sachsenwerk Licht- und Kraft AG Niedersedlitz unter der Leitung von Professor Alfred Bockemühl, dem damaligen Direktor der Dresdner Straßenbahn AG, entwickelt worden war. Bis 1945 war er in Dresden der „König auf Schienen“ – mit einem Leergewicht von 21 Tonnen ein zugegebenermaßen recht schwerer stählerner Monarch allerdings.

Autor der Rezension: Christian Ruf

Kurzüberblick:

  • Autoren: Norbert Kuschinski, Jöran Zill, Frank Ebermann
  • Titel: „Straßenbahnen in Dresden. Die Linien in den Westen der Stadt“
  • Genre: Sachbuch – Verkehrswesen
  • Verlag: VGB Verlagsgruppe Bahn
  • Umfang: 288 Seiten, ca. 700 Abbildungen
  • Preis: 49,95 Euro

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Über Christian Ruf:

Christian Ruf wurde 1963 in München geboren und hat Geschichte sowie Politologie in München und Bonn studiert. Bereits vor dem Mauerfall reiste er mehrmals in die DDR, nach Polen und in die Sowjetunion. Nach der Wende zog er nach Sachsen um. Heute ist er als freier Journalist mit den Schwerpunkten Kultur und Geschichte in Dresden tätig, wenn er nicht gerade in anderen Ecken der Welt unterwegs ist.