Landesausstellung zeigt an sieben authentischen Schauorten die Boomphasen und Talfahrten der Wirtschaft in Sachsen
Zwickau, 10. Juli 2020. Eine Dampfmaschine in der Nussschale, eine Maschinengewehr-Kamera und ein vibrierender, unermüdlich webender Textilmanufaktur-Saal sind nur einige der vielen technischen und künstlerischen Attraktionen, mit denen die heute in Zwickau eröffnete 4. Sächsische Landesausstellung „Boom. 500 Jahre Industriekultur in Sachsen“ aufwartet. Bis zum 31. Dezember 2020 können die Besucher an sieben authentischen Schauorten den industriellen Weg Sachsens vom „Berggeschrey“ bis zur Gegenwart erleben und sehen.
„Sachsen identifizieren sich mit ihrer Industriegeschichte“
„Die Menschen in Sachsen identifizieren sich mit ihrer Industriegeschichte“, erklärte Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) das titelgebende Thema der neuen Landesausstellung. „Die Leistung der Menschen dahinter macht stolz.“ Ähnlich äußerte sich Kulturministerin Barbara Klepsch (CDU): „Der kulturelle Reichtum Sachsens gründet maßgeblich auf der Arbeit, dem Erfindergeist und der Kreativität der hier lebenden Menschen. Ich bin überzeugt, dass die Ausstellung mit ihren besonderen Schauplätzen über die Region hinaus und auch international ausstrahlt.“
Silberfieber löste langen Anlauf bis zur industriellen Revolution aus
Kurator Thomas Spring spannt dafür einen weiten Bogen und setzt auf authentische Orte: Neben dem Hauptstandort im Audi-Bau Zwickau gehören zur Ausstellung das Horch-Museum in Zwickau, das Industriemuseum Chemnitz, ein Bahnbetriebswerk in Chemnitz-Hilbersdorf, das Bergbaumuseum Oelsnitz, die Tuchfabrik Pfau in Crimmitschau und das Lehr- Silberbergwerk Freiberg.
Zeitlich setzt die Schau mit dem zweiten Silberfieber im Erzgebirge gegen Ende des 15. Jahrhunderts ein. Die Gier nach dem Edelmetall unter der Erde löste vor einem halben Jahrtausend zahlreiche Innovationen im Bergbau aus, mechanische Vorrichtungen für Transport und Entwässerung in den Schächten beispielsweise, und sorgte für die Ausbildung von Bergbauexperten, deren technologische Erfahrungen später auch andere Branchen beeinflussten. Vieles davon können die Ausstellungsbesucher im Lehrbergwerk Freiberg besichtigen.
Expertise über Jahrhunderte hinweg akkumuliert
Aber auch die Juweliere und Feinmechaniker, die im Auftrag des kurfürstlichen Hofes raffinierte Schmuckstücke und Mechanismen konstruierten, sowie das staatlich geförderte Manufakturwesen in der merkantilistischen Zeit bereiteten die industrielle Revolution vor. Von diesem langen Anlauf, der Generationen von Ingenieuren, Facharbeitern und Technologen hervorbrachte, profitierte das Land in dieser Zeit enorm: Der Autobau, wie er sich im Horch-Museum spiegelt, der Eisenbahnbau, den die Besucher des Bahnbetriebswerks Hilbersdorf bewundern können, aber auch die Textilindustrie (Schauplatz „Tuchfabrik Pfau“) sowie der allgemeine Maschinenbau (Industriemuseum Chemnitz) profitierten von dieser akkumulierten Expertise und den Zuliefernetzwerken, die sich über die Jahrhunderte gebildet hatten.
Zu DDR-Zeiten blieb Sachsen das Rückgrat der ostdeutschen Industrie
Auch im Deutschen Reich und während der Weimarer Republik war Sachsen einer der wichtigsten europäischen Wirtschaftsstandorte. Nach dem II. Weltkrieg verlor das Land zwar etwas den Anschluss an die internationale Spitzenliga. Doch die sächsischen Betriebe und Kombinate gehörten in dieser Zeit zum Rückgrat der DDR-Industrie. Mit den Computern von Robotron, den Werkzeugmaschinen aus Karl-Marx-Stadt und den Kleidungsstücken der sächsischen Textilfabriken erwirtschaftete die ostdeutsche Zentralverwaltungswirtschaft erhebliche Exporterlöse, konnte damit sowjetisches Erdöl wie auch devisenträchtige Einkäufe im Westen finanzieren. Und obgleich die umstrittene Aufholjagd in der Mikroelektronik die DDR letztlich überforderte und die meisten ostdeutschen Chips bis zuletzt nicht mit dem Westniveau konkurrieren konnten: Die in Dresden entwickelten Halbleiter waren im Ostblock begehrt und teils einzigartig.
„It’s all about people“
Trotz aller Auf und Abs in der sächsischen Wirtschaftsgeschichte, in der sich Booms und tiefe Abwärtsfahrten immer wieder abwechselten, ist doch eines geblieben: Die sächsische Industrie ist der wohl wichtigste Wachstums- und Innovationsmotor für den Freistaat geblieben. Und viele wirtschaftspolitische Weichenstellungen der Kurfürsten, des königlichen Beamtenapparates, der kapitalstarken sächsischen Unternehmer der Vorkriegszeit, aber auch der DDR-Wirtschaftslenker wirken bis heute nach. „It’s all about people“ („Die Menschen sind das wichtigste“), sagte der damalige AMD-Chef Jerry Sanders, als er 1998 gefragt wurde, warum der US-Halbleiterkonzern seine erste Chipfabrik außerhalb Amerikas ausgerechnet in Dresden baute. Denn neben hohen Subventionen war es vor allem das Heer ehemaliger DDR-Mikroelektroniker und die Ökosphäre aus Halbleiter-Zulieferfirmen in Sachsen, von denen die Investoren enorm profitierten.
Viele Entwicklungslinien auch durch Systemwechsel nicht völlig unterbrochen
Und die Reihe der Beispiele ließe sich fortsetzen, wie trotz aller Brüche auch Kontinuitäten über die Systemwechsel hinaus in der sächsischen Industriegeschichte gewirkt haben: Man denke etwa an die Elbe-Flugzeugwerke, die auf die eingestampfte DDR-Flugzeugindustrie zurückgehen, an die vielen Ausgründungen aus dem längst abgewickelten Computerkombinat Robotron, an die wiederbelebte Edeluhren-Industrie in Glashütte und anderes mehr. Dies lässt erahnen: Auch wenn Sachsens Wirtschaft heute keine so dominante Rolle mehr in Deutschland und Europa spielt wie vor dem – hoffentlich letzten – Weltkrieg: Alle Erfahrung stützt die Annahme, dass sich die Sachsen wieder aufrappeln werden.
Kurator Spring: Sachsen haben immer wieder wegweisende Antworten gefunden
„Im Auf-und-ab und Immer-wieder-neu kann man das Wesen der sächsischen Industriegeschichte und des hier typischen Innovationsklimas erkennen“, betonte Kurator Thomas Spring. „Immer wenn das tiefe Tal eines wirtschaftlichen Zyklus erreicht schien, fand man hier wegweisende Antworten und tragfähige Zukunftsperspektiven – und so ist das bis heute geblieben.“
Werbevideo der Macher für die Ausstellung:
Menschen statt nur kalter Stahl im Fokus
Weil all dies sehr viel mit Menschen, ihren Träumen und Fertigkeiten zu tun hat, stellen die Macher nicht allein kalten Stahl, Silizium und Ingenieurgeist in den Fokus der Ausstellung: „In der Zentralausstellung soll es weniger um Industrie- und Technikgeschichte gehen, sondern um den Menschen im Industriezeitalter, also darum wie Menschen in Sachsen seit 500 Jahren ihre Lebenswelt gestalten“, betonte Klaus Vogel, Direktor des Deutschen Hygiene-Museums, der die Schau mitorganisiert hat. „Es geht darum, erlebbar zu machen, wie Forschergeist und Neugier das Land geprägt haben, wie Rückschläge überwunden, wie Frauen ihre Rechte erkämpft haben, wie die Demokratie errungen, verloren und wieder erobert wurde – und wie Weltoffenheit und Heimatverbundenheit sich fruchtbar ergänzen können.“
Kurzübersicht
- Titel: Landesausstellung „Boom. 500 Jahre Industriekultur in Sachsen“
- Geöffnet: 11. Juli 2020 bis 31. Dezember 2020
- Schauorte:
- Audi-Bau Zwickau, Audistraße 9, 08058 Zwickau
- Horch-Museum in Zwickau, Audistraße 7, 08058 Zwickau
- Industriemuseum Chemnitz, Zwickauer Straße 119, 09112 Chemnitz
- Bahnbetriebswerk in Chemnitz-Hilbersdorf, Frankenberger Straße 172, 09131 Chemnitz
- Bergbaumuseum Oelsnitz, Pflockenstraße 28, 09376 Oelsnitz/Erzgeb.
- Tuchfabrik Pfau in Crimmitschau, Leipziger Straße 125, 08451 Crimmitschau
- Lehr- Silberbergwerk Freiberg, Fuchsmühlenweg 09, 09599 Freiberg
- Eintritt: Die Schauplätze erheben getrennt Eintrittspreise, die Zentralausstellung zum Beispiel kostet pro Kopf zehn Euro. Ein Kombiticket für alle Schauplätze außer dem Lehrbergwerk Freiberg kostet 40 euro, ermäßigt 20 Euro.
- Weitere Infos gibt es hier: boom-sachsen.de
Autor: Heiko Weckbrodt
Quellen: SMKT, Oiger-Archiv, boom-sachsen.de, „Dienstags direkt: Boom! Warum die Industrie in Sachsen boomte und was davon übrig ist“ (MDR Sachsen)
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