Hartmut Freitag war Offizier, Tänzer, Konstrukteur – heute ist er einer der Chefs im Dresdner Vorzeige-Unternehmen Xenon
Dresden, 18. Januar 2018. „Xenon Automatisierungstechnik“ gilt in Dresden als Vorzeige-Beispiel für eine sehr erfolgreiche Unternehmensgründung der Nachwende-Zeit – und weit über Sachsen hinaus als ein Vorreiter der „Industrie 4.0“. 1990 von den Ingenieuren Dr. Eberhard Reißmann und Dr. Hartmut Freitag gegründet, gehört das Sondermaschinenbau-Unternehmen heute zu den Top-Adressen für Fabrik-Automatisierung. Was als kleine Kellerfirma begann, ist inzwischen ein mittelständisches Unternehmen mit 55 Millionen Euro Jahresumsatz und rund 300 Mitarbeitern in Deutschland, China und Mexiko. Eng verwoben sind die Geschichte und Geschicke des Unternehmens mit der Dresdner Uni und dem DDR-Computerkombinat Robotron – auch durch viele persönliche Bande.
Utopien und Panzer
Denn Xenon ist ein sehr entwicklungsorientiertes Unternehmen und viele Ingenieure des Betriebes studierten an der TU Dresden – so auch Geschäftsführer Hartmut Freitag. Die Weichen dahin stellte er früh: 1957 als Sohn einer Lehrerfamilie geboren und im beschaulichen Teich-Städtchen Peitz nahe Cottbus aufgewachsen, begeisterte sich Hartmut Freitag beizeiten für Technik und Wissenschaften. „Ich habe die utopische Literatur nur so verschlungen“, erzählt er. „Das Visionäre hat mich begeistert.“ Seine erste Feuerprobe nach dem Abi als Techniker und Chef hatte der damals 19-Jährige als „Unterleutnant Freitag“ in einer Pioniereinheit der NVA-Panzertruppen. „Als Offizier auf Zeit lernt man, als Jüngerer ein Team mit Älteren zu führen.“
Studieren beim Feingeräte-Papst
1978 wieder ins Zivilleben entlassen, begann Freitag zu studieren: Feingerätetechnik bei Professor Werner Krause in der Sektion 10 an der TU Dresden. „Krause war eine Art Papst der Feingerätetechnik. Er hatte Standardwerke geschrieben, die auch im Westen gelesen wurden.“ Das Studium war anspruchsvoll, zeitfressend und breitgefächert: Mechanik, Messtechnik, Regelungstechnik, Schaltungen, Fertigungsprozesse in der Halbleiter-Industrie… Da blieb neben Pauken, Belegen und Praktikum nicht viel Freizeit. „Gewohnt habe ich in einem Studenten-Wohnheim an der Nöthnitzer Straße. Das Gute war: Wir konnten in Hausschuhen die paar Schritte rüber in den Hörsaal schlurfen. Allerdings war ich anfangs in einem Sechs-Mann-Zimmer – die Lebens- und Studienbedingungen waren schwierig.“ Andererseits sei gerade die Konstruktions-Ausbildung an der Uni für ihn sehr faszinierend gewesen, sagt Freitag. „Das sehe ich nach wie vor so: Die größtmögliche Kreativität kann der Konstrukteur ausleben.“
Mein Lieblingstanz war der ,Auerhahn‘
Und doch blieb etwas Zeit für Dinge, die man damals gerne als „gesellschaftliches Engagement“ abrechnete. Für Tanz zum Beispiel: „Ich wurde Gruppenleiter im studentischen Folklore-Tanzensemble“, erzählt der Ingenieur. „Wir haben Volkstänze im Dresdner Kulturpalast, gelegentlich auch bei Gastspielen in der Sowjetunion, in Polen und Bulgarien aufgeführt und dafür einige Preise gewonnen. Seitdem ist es mir nie schwer gefallen, vor Hunderten Menschen einen Vortrag zu halten“ Freitag schwelgt ein paar Sekunden stumm in Erinnerungen. „Die Pfälzer – ein Tanz mit Weingläsern auf dem Kopf und akrobatischen Einlagen habe ich sehr gemocht“, entsinnt er sich. „Mein Lieblingstanz war aber der ,Auerhahn‘ – ein bayrischer Tanz mit Plattlereinlagen.“
„Die TU galt damals als ziemlich rot“
Der Auerhahn war es wohl auch, der die letzten Hürden zum Doktor-Titel aus dem Weg räumte. „Die TU galt damals ja als ziemlich ,rot‘, wir wurden ständig auf Parteilinie gedrängt“, erklärt Freitag die Hintergründe. „Diese politische Agitation ist mir ziemlich auf den Zünder gegangen.“ Als die Sektion dem Zweitbesten der Seminargruppe, der partout nicht in die SED eintreten wollte, ein Anschluss-Stipendium nach dem Diplom verweigerte, riss dem jungen Ingenieur der Geduldsfaden. „Ich habe mich beim Professor beschwert und auf mein gesellschaftliches Engagement in der Tanzgruppe verwiesen.“
Aufbruch der DDR ins Digitalzeitalter
Das half: Freitag wurde doch noch Forschungsstudent, wie man damals die Doktoranden-Stellen nannte, und promovierte über „Zustandsreglungen elastischer Gleichstromantriebe“. Das klingt sehr speziell, war aber bereits ein Morgenstreif des nahenden Digitalzeitalters. „Mit analogen Ansätzen waren diese Reglungsalgorithmen nicht beherrschbar“, skizziert Freitag das damalige Problem. „Erst Digitaltechnik machte das möglich, deshalb hatte ich mir das Thema auch herausgesucht und auf einem K 1520, einem der ersten DDR-Mikrorechner mit U880-Prozessor umgesetzt“.
Von Mangelwirtschaft nicht entmutigen lassen
Der frischgebackene Doktoringenieur startete seine Karriere 1986 im DDR-Computerkombinat Robotron in Dresden, bei „Meßelektronik“ in der Abteilung für Rationalisierungsmittelbau. Die wurde von Dr. Eberhard Reißmann geleitet – und der verstand es, seine Leute mitzureißen. „Er hat mich als Mensch begeistert“, erzählt Freitag. „Er hatte Visionen und eine Aura als Leiter. Er hat sich die interessantesten Aufgaben herausgepickt und sie trotz der Widrigkeiten der DDR-Wirtschaft zum Erfolg geführt.“ Das erste Projekt, an dem der junge Ingenieur tüftelte, war ein Kabelkonfektionier-Automat. Der sollte universeller einsetzbar sein als die entsprechenden Westgeräte, die man sich sowieso nicht leisten konnte. „Unsere Konstruktion war genial“, findet Freitag immer noch. „Leider war der Automat in der Praxis unzuverlässig, weil die in der DDR verfügbare Pneumatik ständig kaputt gegangen ist.“ Aber aus Fehlern lernt man. Das zweite Projekt, an dem Freitag saß, war ein Montageautomat für elektrische Kontaktstifte. Und der führte bereits zu einer Patentanmeldung. Weitere Konstruktionen für die ostdeutsche Computer- und Messtechnikproduktion folgten.
Vom Kombinat in den Keller
Dann kam das Jahr 1989. Die DDR-Welt stellte sich vom Kopf auf die Füße. Bald wollte keiner mehr ostdeutsche Computer oder Messtechnik kaufen. Die Treuhand begann, Robotron „abzuwickeln.“ Plötzlich war „Management-Buy-Out“ (MBO) in aller Munde: Überall im Lande trommelten leitende Mitarbeiter ihre besten Leute zusammen und gründeten kleine Firmen aus den untergehenden Kombinaten aus, um der drohenden Arbeitslosigkeit zu entgehen. Noch vor der Währungsunion und Wiedervereinigung fragte Reißmann seinen Ingenieur, ob er bei solch einem MBO mitmachen wolle. Da war Freitag gerade 33 Jahre alt, steckte mitten im Hausbau. Dennoch zögerte er nicht eine Sekunde, stieg als Mitgesellschafter und Chefkonstrukteur ein. „Ich war überzeugt, dass wir so was wie das A-Team aus dem Fernsehen sind“, erinnert er sich. „Elf hervorragende Ingenieure und Facharbeiter, die einfach alles können.“
Automaten-Montage in der Feuerwehr-Garage
Im Juni 1990 entstand „Xenon“ als Sonderanlagen-Konstruktionsunternehmen in einem Keller an der Fetscherstraße. Aller Anfang war „Klinkenputzen“: „Ich weiß noch, wie Eberhard Reißmann mit seinem Wartburg in die Alten Bundesländer gefahren ist, um die ersten Kunden zu gewinnen“, erinnert sich Freitag. „Einer unserer ersten größeren Aufträge war ein Automat für die Minidisc-Produktion. Den mussten wir in einer Feuerwehr-Garage montieren, weil im Keller nicht genug Platz war.“
Stetiges Wachstum seit der Wende
1993 war die Firma bereits so groß, dass Xenon in ein eigenes Hauptquartier an der Heidelberger Straße umzog – als eine der ersten Ansiedlungen im neuen Dresdner Gewerbegebiet Coschütz-Gittersee. Seitdem ist Xenon stark gewachsen, hat über 1500 Maschinen konstruiert und weltweit ausgeliefert. Derzeit baut das Unternehmen gerade wieder eine neue Fabrikhalle an der Stuttgarter Straße an.
Das Ökonomische mussten wir erst lernen
Was das Unternehmen so stark gemacht hat, ist nicht zuletzt der kreative Ingenieurgeist, der die Belegschaft von der Montagehalle bis in die Chefetage beseelt. „Letztens hatten wir Chinesen zu Besuch, die waren ganz erstaunt, wieviel Technikkompetenz hier bis in die Geschäftsleitung hinein konzentriert ist“, erzählt Freitag. Diese Kompetenz speise sich aus Erfahrung – und der Top-Ausbildung an der TU Dresden. „Das einzige, was wir zu DDR-Zeiten an der Uni nicht so richtig gelernt haben, war das Ökonomische: Wie verdiene ich Geld mit meinen Ideen? Wie finde ich Kunden und behalte ich sie? Das mussten wir erst lernen“, schätzt Freitag ein. Die gute fachliche Ausbildung spreche nach wie vor für sich. Bis heute kooperiere Xenon eng mit der TUD und der HTW. So betreut der Betrieb beispielsweise Diplomanden, um gute Leute für das Unternehmen auszusieben. „So generieren wir unseren Ingenieurnachwuchs.“
Autor: Heiko Weckbrodt
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