Im Sammelband „Wir sind ein Volk! – Oder?“ reflektieren 20 Akteure 30 Jahre deutsche Einheit
Herbert Wagner kann sich noch gut an diesen Vorabend der deutschen Wiedervereinigung vor 30 Jahren entsinnen: Der Elektronikingenieur war Oberbürgermeister von Dresden geworden und saß nun in seinem Dienstzimmer und lauschte der neuen Zeit entgegen: „Vor dem Dresdner Rathaus flogen vereinzelte Feuerwerkskörper“, erinnert er sich an den 2. Oktober 1990. „Wer nicht bis Mitternacht warten konnte, ließ bereits die Sektkorken knallen.“
Kommunen über Nacht finanziell ausgetrocknet – doch „in Bonn bemerkte das keiner“
Doch Wagner ahnte laut eigenem Bekunden schon damals, dass mit dem Anschluss der ostdeutschen Länder an die Bundesrepublik ein ganz neuer Berg von Problemen wartete. Probleme, die angesichts der globalen Umwälzungen ringsum zunächst vielleicht banal erschienen, aber eben den Alltag vieler Menschen beeinflussten. Nur ein Beispiel: Ab dem Tag der Wiedervereinigung überwies keine Zentrale aus Berlin mehr Gelder an die Kommunen, die zu DDR-Zeiten de facto eben nur untergeordnete Organe gewesen waren. „Die kommunalen Kassen waren leer“, berichtet der damalige OB Herbert Wagner. „In der Bundeshauptstadt Bonn bemerkte das keiner. Löhne und Gehälter konnten nicht mehr gezahlt, notwendige Investitionen nicht mehr getätigt werden.“
Geschichten formen Geschichte
Es sind solche eben solche Details und Randnotizen, die es niemals in die Geschichtsbücher schaffen. Gerade sie machen aber viel von dem neuen Sammelband „Wir sind ein Volk! – Oder? Die Deutschen und die deutsche Einheit“ aus, den die in Dresden geborene Regisseurin und Bürgerrechtlerin Freya Klier nun im Herder-Verlag publiziert hat. Darin finden sich Erinnerungen und Reflexionen von 20 Autoren, die in der einen oder anderen Weise das Ende der DDR, das „erste Kennenlernen“ zwischen Ost und West und die Zeit danach miterlebt und mitgeprägt haben. Dazu gehören Prominente wie Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, der Schriftsteller Reiner Kunze, Dresdens langjähriger Nachwende-Bürgermeister Herbert Wagner und der Liedermacher Stephan Krawczyk, aber auch weniger bekannte Akteure, die die Monate und Jahre der Transformation aus ganz individuellen Blickwinkeln beleuchten. Manche Beiträge wirken literarisch, einige auch arg selbstbezogen, andere erzählen viele Details herunter wie es Individuen eben als Alltagsstrom erleben.
„Vereinigung von Ungleichen“
Viele reflektieren das bis heute ambivalente Miteinander von Ex-DDR- und Alt-BRD-Menschen kritisch. So etwa Thierse, der gegen DDR-Verklärer und Pegidisten ebenso austeilt wie gegen verkrustete Ost-West-Rollenmodelle: „Es war eine Vereinigung von zwei Ungleichen, von einem erfolgreichen und einem gescheiterten System“, schreibt er etwa in seinem Essay „Die Ostdeutschen waren auch damals nicht einer Meinung“. Und weiter: „Im Westen wirkte der Zusammenbruch des ostdeutschen Systems als Bestätigung des status quo, im Osten bewirkte er eine radikale Veränderung. Die einen wurden die Lehrmeister, die anderen Lehrlinge. Das ist ein schmerzliches Beziehungsverhältnis, das gerade im Osten lang anhalte Wirkungen erzeugte.“
Kurzüberblick:
- Herausgeberin: Freya Klier
- Titel: „Wir sind ein Volk! – Oder? Die Deutschen und die deutsche Einheit“
- Genre: Zeitgeschichtlicher Sammelband
- Verlag: Herder
- Veröffentlichung: Freiburg, August 2020
- Preis: 20 Euro (Papier, ISBN 978-3-451-38837-8), 16 Euro (E-Buch, ISBN 978-3-451-82153-0 im PDF-Format bzw. 978-3-451-82126-4 im Epub-Format)
- Eine Leseprobe gibt es hier
Autor der Rezension: Heiko Weckbrodt
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