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In Vietnam ist die Zeit wie Gummi

Thuy Thi Luong mit ihrer Tochter Emma. Die Diät-Assistentin igehört zur 2. Generation vietnamesischer Einwander in Dresden, hat mehr deutsche Freunde als vietnamesische, engagiert sich in einem Diabeteshilfe-Verein.Foto: Heiko Weckbrodt

Thuy Thi Luong mit ihrer Tochter Emma. Die Diät-Assistentin gehört zur 2. Generation vietnamesischer Einwander in Dresden, hat mehr deutsche Freunde als vietnamesische, engagiert sich in einem Diabeteshilfe-Verein. Foto: Heiko Weckbrodt

Thuy Thi Luong ist 32 Jahre jung und versteht sich selbst als Deutsche mit vietnamesischen Wurzeln. Geboren wurde sie in Hải Dương, einer mittleren Stadt rund 60 Kilometer westlich von Hanoi, und gehört zur sogenannten „zweiten Generation“ vietnamesischer Einwanderer in Dresden: Ihr Vater war DDR-Vertragsarbeiter und holte sie und die ganze Familie 1997 nach Sachsen nach. Damals hieß das Mädchen nach vietnamesischer Namenstradition noch Luong Thi Thuy: Nachname zuerst, dann Zwischenname und zuletzt Vorname. Da war sie gerade 13 Jahre alt und sprach so gut wie kein Wort Deutsch. Inzwischen sächselt die charmante junge Dame fließend, hat eine achtmonatige Tochter namens Emma unter dem Arm und wohnt in einer hübschen Altbauwohnung in Gruna. Oiger-Redakteur Heiko Weckbrodt hat sie über den Weg dorthin ausgefragt.

Das muss hart gewesen sein: Als Teenager herausgerissen zu werden aus allen Freundschafts- und Familienbanden und ins kalte Deutschland umgepflanzt zu werden…

Thuy Thi Luong: Unsere Eltern haben uns eines Tages gesagt: Wir bauen uns ein neues Leben in Deutschland auf – meine Schwester und ich hatten da nichts zu entscheiden. Am Anfang war es richtig schwierig für mich. Wir sind im März 97 in Freiberg angekommen. Überall lag Schnee, es war kalt, die Menschen waren alle riesig und hatten ganz tiefe Stimmen. Ich wurde von manchen Leuten auf der Straße bespuckt und ständig wurde mein Fahrrad kaputt gemacht. Ich wollte die ganze Zeit nur eines: wieder zurück nach Hause, nach Vietnam.

Bespuckt? Im Ernst?

Thuy Thi Luong: In den 90ern gab es so eine Stimmung gegen die Vietnamesen. Das hat sich erst gegeben, als ich genug Deutsch konnte, um verbal zurückzuschlagen. Außerdem habe ich Freunde gefunden. Und ich habe viel Unterstützung vom Direktor meiner Schule bekommen und von seiner Frau, die auch Lehrerin war. Ich glaube, sie waren begeistert, weil ich so neugierig war. Sie haben mir bei sich zu Hause Nachhilfe in Mathe, Deutsch und Chemie gegeben. Sie waren für mich wie Großeltern. Was ich heute bin, habe ich den beiden zu verdanken. Zu Hause konnte mir ja keiner helfen beim Schulstoff.

Wieso? Ihr Vater muss doch als langjähriger DDR-Vertragsarbeiter Deutsch gelernt haben?!

Thuy Thi Luong: Er hat zu DDR-Zeiten in einer Fleischerei gearbeitet, da musste er keinen deutschen Satzbau lernen. Und außerdem hatten meine Eltern wenig Zeit: Sie sind mit einem Bus voller Klamotten von Markt zu Markt gefahren, um sie dort zu verkaufen.

Für Vietnamesen hat die Familie einen sehr hohen Stellenwert. Hier eine Straßenszene aus Phan Thiet, einer Küstenstadt 200 Kilometer östlich von Saigon. Foto: Heiko Weckbrodt

Für Vietnamesen hat die Familie einen sehr hohen Stellenwert. Hier eine Straßenszene aus Phan Thiet, einer Küstenstadt 200 Kilometer östlich von Saigon. Foto: Heiko Weckbrodt

Vietnamesen leben für andere Menschen

Wie hat es Sie nach Dresden verschlagen?

Thuy Thi Luong: Nach der Schule habe ich in Dresden eine Ausbildung zur Diät-Assistentin machen können. Meine ganze Familie ist deshalb nach Dresden umgezogen, um mich zu unterstützen. Meine Eltern haben den Klamottenbus aufgegeben und in Wilsdruff einen Obstladen aufgemacht. Das ist eben auch ein Teil unserer Kultur: Die Vietnamesen leben für andere Menschen. In der Familie füreinander da zu sein, ist uns sehr wichtig.

Wurden Sie in Dresden auch wieder angespuckt?

Thuy Thi Luong: Ich habe Dresden als weltoffene, vielfältige und multikulturelle Stadt erlebt – ich habe hier viele Freundschaften geschlossen. Und schon während der Ausbildung habe ich angefangen, mich gesellschaftlich zu engagieren: im Zuckerstachel e. V., der sich um diabeteskranke Kinder kümmert.

Gemeinsam kochen hilft Vorbehalte zu überwinden. In der Helios-Klinik waren die vietnamesischen Azubis auch mal Lehrer, wenn es um asiatische Kochkunst geht. Foto: DPFA

Gemeinsam kochen hilft Vorbehalte zu überwinden. Vetnamesische Azubis in einer sächsischen Helios-Klinik. Foto: DPFA

Das klingt sehr assimiliert. Wie sehen Sie sich selbst heute? Als Deutsche? Als Vietnamesin?

Thuy Thi Luong: Vor zehn Jahren hätte ich auf diese Frage noch geantwortet: Ich bin stolze Vietnamesin. Stolz auf ein Volk, das mächtige Besatzer wie die Chinesen, die Franzosen und die Amerikaner aus seiner Heimat verjagt hat. Diese Stolzimpfung habe ich noch von meinen Großeltern bekommen und die kriegen wohl alle vietnamesischen Kinder: Wir sind ein friedfertiges Volk, das aber eben auch fähig ist, die bösen Angreifer zu verjagen. Und auf diese Wurzeln bin ich auch heute noch stolz.

Aber irgendwann kam für mich auch der Punkt, an dem ich mich nicht mehr wie zu Hause, sondern wie ein Gast gefühlt habe, wenn ich Vietnam besucht habe. Ich war weder Fisch noch Fleisch, weder richtig Deutsche noch richtig Vietnamesin. Heute fühle ich mich als Deutsche – mit vietnamesischen Wurzeln.

Wie kam das?

Thuy Thi Luong: Ich habe gemerkt, dass ich längst mehr deutsche als vietnamesische Freunde hatte. Und dann kam meine Tochter. Da wurde mir klar: Emma braucht einen sicheren Mittelpunkt – und über den musste auch ich mir klar werden. Inzwischen weiß ich: Der Faden nach Vietnam ist durchgeschnitten. Dort bin ich nur noch „die aus dem Westen“.

Will nicht als Ameise wiedergeboren werden

Ich sehe zum Beispiel keinen Schrein an der Tür?!

Thuy Thi Luong: Nein, aber ich glaube an den Ahnenkult und dass es wichtig ist, im Leben Gutes zu tut. Ich will später nicht als Ameise wiedergeboren werden.

Gab es ein Schlüsselerlebnis, bei dem Ihnen klar wurde: Ich bin jetzt mehr Deutsche als Vietnamesin?

Thuy Thi Luong: Zum Beispiel dieser Urlaub in Vietnam. Ich war mit meinen Cousinen zum Picknick in den Bergen. Die wollten hinterher allen Müll liegenlassen – und ich habe gesagt: Den müssen wir mitnehmen.

Wilde Müllhalde auf Phu Quoc, einer der ansonsten schönsten Inseln von Vietnam. Foto: Heiko Weckbrodt

Wilde Müllhalde auf Phu Quoc, einer der ansonsten schönsten Inseln von Vietnam. Foto: Heiko Weckbrodt

Meine Landsleute brauchen keinen mächtigen Land, um ihr Land zu zerstören

Da haben Sie sicher recht: Mülltrennen gehört zur deutschen Leitkultur wie Senf zur Bratwurst.

Thuy Thi Luong: Ganz im Ernst: So stolz ich auch auf meine Wurzeln bin – manches ärgert mich sehr an meinen Landsleuten. Dass sie zum Beispiel gar keinen mächtigen Feind brauchen, um ihr Land zu zerstören. Ich denke da an die selbstgemachten Umweltprobleme, an den Aberglauben, die Korruption hoch drei und die fehlende Meinungsfreiheit.

Und dann die Unpünktlichkeit… In Vietnam ist die Zeit wie Gummi: dehnbar in alle Richtungen. Das war auch so ein Schlüsselerlebnis: Ich bin zu Besuch in Vietnam, ich warte auf den Bus. Der sollte um 10 Uhr kommen und gekommen ist er dann tatsächlich gegen 13 Uhr. Das kann ich nicht mehr ab. Ich habe mich furchtbar geärgert. Meine vietnamesischen Verwandten haben meinen Ärger nicht verstanden und gesagt: So ist das nun mal mit dem Bus.

Wir haben Ihre Eltern auf diese wachsende Distanz zu ihren Wurzeln reagiert?!

Thuy Thi Luong: Ich war die erste in meinem Verwandten- und Bekanntenkreis, die mit einer „Langnase“ als Freund nach Hause kam. Daran haben meine Eltern erst mal gekaut. Aber andererseits gehört auch das zum Wesen vieler Vietnamesen: Sie versuchen sich überall anzupassen und nicht aufzufallen – besonders in der zweiten Generation ist der Integrationswille groß.

Den Franzosen wird der Spruch nachgesagt, die Vietnamesen seien die Preußen Asiens. Sehen sie auch so viele Parallelen zwischen vietnamesischer und deutscher Alltagskultur?

Thuy Thi Luong: Neben vielen Unterschieden sehe ich auch Parallelen. Vietnamesische Eltern bringen große Opfer, damit ihre Kinder eine gute Ausbildung bekommen, damit es den Kindern einmal besser geht als den Eltern. Überhaupt ist Bildung für die Vietnamesen ein hohes Gut und das haben sie ganz bestimmt mit den Deutschen gemeinsam. Diese Erziehung nach der Devise „Du musst besser sein als andere“ hängt mit der Geschichte Vietnams zusammen – aber auch dem Umstand, dass Vietnam ein sehr armes Land ist. Das sollten wir uns alle immer wieder vor Augen führen: Im Vergleich zu Vietnam leben wir alle hier in Saus und Braus.

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt

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