Filmforscherin Gertrud Koch: Angst vor Chaos, Überwachung und Versklavung lässt Dystopien blühen
Dresden, 29. Juni 2016. Leben wir inmitten einer globalen Vertrauenskrise in die soziale, ökologische und ordnungspolitische Zukunft der Menschheit? Dies ist durchaus anzunehmen, wenn man sich die Flut zukunftspessimistischer, also „dystopischer“ Filme anschaut, die sich seit einigen Jahren wieder durch die Kinos wälzt. Da sind an die Stelle der hoffnungsfrohen Utopien des frühen Raumfahrzeitalters die Dystopien getreten, in denen die Natur zurückschlägt, eine kleine Elite die Masse der Menschen versklavt und totalüberwacht oder inmitten des Weltuntergangs nur die überleben, die sich auf „die guten alten“ Werte rückbesinnen.
In Panem sterben die Kinder, im Elysium lebt die Elite im Überfluss
Erinnert sei nur an das wohlig Gruseln, mit dem wir dem vermeintlichen Maya-Kalenderende in „2012“ entgegengefiebert haben, den Hype um die Hungerspiele in einer diktatorischen Nachkriegs-USA in „Die Tribute von Panem“ oder die filmische Skizze einer Zukunftswelt, in der die reichen Bewohner von „Elysium“ Medikamente im Überfluss besaßen, während die arznei-losen Morlocks auf der Erdoberfläche an Krankheiten starben. Die Filmforscherin Prof. Gertrud Koch von der Freien Universität (FU) Berlin hat sich all diese finster-didaktischen Visionen angeschaut und analysiert. Am Dienstagabend hat sie auf Einladung des TU-Lehrstuhls für Rechts- und Verfassungstheorie im Hygienemuseum Dresden in einem öffentlichen Vortrag eine Antwort auf die Frage gewagt: „Warum haben Dystopien Konjunktur?“
Dystopien sind typische „Krisenphänome
Letztlich, so sagt sie, sind solche Dystopien „Krisenphänome“: Ausdruck eines tiefen Unbehagens entweder in der gesamten Gesellschaft oder zumindest in Künstlerkreisen über den Zustand und das Wohin der Welt. Utopien, die im heutigen Sprachgebrauch als optimistisches Gegenstück zu den Dystopien gelten, also als Entwurf einer freundlichen Zukunft, seien hingegen eher in optimistischen Zeiten gefragt.
Selbst utopisches „Star Trek“-Universum hat sich heute dunkel gefärbt
Deutlich zeigt sich das nach Meinung von Jan-Philipp Kruse von den TU-Rechtstheoretikern auch am Beispiel der legendären TV-Science-Fiction-Serien um das Raumschiff „Enterprise“: Waren diese „Star Trek“-Serien und -Filme in den 1960ern optimistischer Ausdruck einer Menschheit, die gerade nach den Sternen griff, Astronauten als Superstars verehrte und der alles möglich erschien, sind die heutigen Neuauflagen der Enterprise-Filme meist von einem tiefen Zukunfts-Pessimismus geprägt, eher düster in Optik und Gesellschaftsbild.
Was fürchten wir mehr: Chaos oder Sklaverei?
Dass dystopische Filme seit Jahren so in Mode sind, ist laut Gertrud Koch auch ein Ausfluss tiefer Ängste vieler Menschen in einer schwer überschaubaren globalisierten Welt: Dazu gehören soziale und ökologische Ängste, aber auch Technikphobien und nicht zuletzt Furcht vor Chaos und Armut. „Wenn Sie sich dystopische Filme genau ansehen, sehen Sie sehr ambivalente Bilder“, betonte die Forscherin, die seit 1999 die Professur für Filmwissenschaft an der FU Berlin leitet. „Da ist für den Zuschauer oft schwer zu entscheiden, was er mehr fürchten soll: die Ströme zerlumpter Flüchtlinge in einer aus den Fugen geratenen Welt oder die totalitäre Herrschaft, die dieses Massen bändigt, die für Ordnung im Chaos sorgt?“
Autor: Heiko Weckbrodt
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