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Die „rollenden Hotels“ von Nagetusch aus Dresden

Der Nagetusch-Wohnwagen "Cabinet" mit einem Wartburg 311 als Zuggefährt. Der "Cabinet" war mit 2,6 Metern der kleinste Wohnwagen im Programm des Dresdner Betriebes. Repro (hw) aus: Hartwig/Suhr: "Nagetusch..."

Der Nagetusch-Wohnwagen „Cabinet“ mit einem Wartburg 311 als Zuggefährt. Der „Cabinet“ war mit 2,6 Metern der kleinste Wohnwagen im Programm des Dresdner Betriebes. Repro (hw) aus: Hartwig/Suhr: „Nagetusch…“

Wie ein Handwerker aus Sachsen zu DDR-Zeiten erst zum Produzent schicker Wohnwagen aufstieg – und dann enteignet wurde

Der Dresdner Richard Nagetusch stellte zu DDR-Zeiten Wohnwagen her, die hinsichtlich Preis und Größe ungemein exklusiv waren – und heute noch legendär sind. Letztlich wurde der 20-Mann-Betrieb 1972 im Zuge der der letzten großen Enteignungswelle in der DDR verstaatlicht. Dann verschwand nicht nur der Name Nagetusch in der Versenkung, auch die Produktion lief still und leise aus.

In Deutschland werden immer mehr Caravans und Wohnwagen zugelassen. Das war lange nur der wachsenden Zahl von Rentnern und Pensionären geschuldet. Nun sorgen auch noch Corona – beziehungsweise die Angst davor – dafür, dass die ohnehin überfüllten Straßen durch Tausende von Reisemobilen und Wohnwagen noch stärker verstopft wurden. Wohnmobile wie -wagen stehen an den meisten spektakulären Aussichtspunkten des Landes. Und die fahrbaren Eigentumswohnungen werden immer größer. Gerüchten zufolge soll es gar Modelle mit Indoor-Whirlpool, Weinkeller, Sauna und Minigolfplatz geben, die dem Freizeitangebot auf Jachten russischer Oligarchen in nichts nachstehen.

Verbaut wurde, was gerade da war

Einer, der früh im Luxus-Segment im Wohnanhänger-Bau tätig war, war der Dresdner Richard Nagetusch. Zumindest einigen Zeitgenossen ist er noch ein Begriff. Was er schuf, das war Qualität erster Güte – und das im Sozialismus, in dem es zwar vielleicht nicht nichts gab, viel zu vieles aber in der Tat nicht. Nagetusch konnte nur verbauen, was bei der schlechten Lage bei Anbau- und Zubehörteilen gerade erhältlich war. Mal montierte er an seine Wohnwagen die Rückleuchten von einem IFA-DKW F8, dann welche vom Wartburg 311, vom Barkas-Transporter und wenn es ganz verrückt wurde, dann durchaus auch von einem Skoda „Made in CSSR“. Und ab 1969 kam er an die formschönen Rückleuchten in Schiffchenform überhaupt nicht mehr heran, sondern nur noch an relativ plumpe Einheitslampen, wie sie im Lastwagen- und Traktorenbau gängig waren.

Fast vergessenes Kapitel Dresdner Wirtschaftsgeschichte wiederentdeckt

Ein Bild Richard Nagetuschs und der von ihm und seinen Angestellten erbauten Wohnwagen zeichnen nun Christian Suhr und Frank Hartwig in dem Buch „Nagetusch. Wohn-Anhänger aus Dresden“ gezeichnet. Dabei stützen sie sich auf jahrelange Recherchen und Unterlagen aus dem Familienarchiv bei an sich „spärlicher Aktenlage“. Illustriert ist das wie eine Zeitreise in die DDR-Vergangenheit wirkende und ein nahezu gänzlich vergessenes Kapitel Dresdner Wirtschaftsgeschichte aufdeckende Werk mit einer ganzen Reihe an bislang unveröffentlichten Bildern.

Nach dem Krieg und in den 1950ern baute Nagetusch zunächst vor allem Spezialwagen, oft auf der Basis bereits existierender Laster oder Busse. Hier im Bild eine Fahrbücherei der Stadtbibliothek Dresden. Repro (hw) aus: Hartwig/Suhr: "Nagetusch..."

Nach dem Krieg und in den 1950ern baute Nagetusch zunächst vor allem Spezialwagen, oft auf der Basis bereits existierender Laster oder Busse. Hier im Bild eine Fahrbücherei der Stadtbibliothek Dresden. Repro (hw) aus: Hartwig/Suhr: „Nagetusch…“

Vom Stellmacher zum Spezialwagen-Hersteller

Geboren wurde Richard Nagetusch am 17. Januar 1904 in Dresden-Bühlau. 1931 gründete er seinen Ein-Mann-Betrieb. Anfangs baute er vornehmlich Nutzfahrzeugaufbauten und -anhänger, reparierte Unfallwagen. Zunächst war er ein „unbedeutender Stellmacher und Karosseriebauer von vielen“ in der sächsischen Landeshauptstadt. Der Betrieb wurde dann beim Bombenangriff vom 13. Februar 1945 vollkommen zerstört. Der Neuaufbau erfolgte erst in Strehlen an der Kreischaer Straße, dann – ab 1952 – in der Possendorfer Straße in Kaitz. Dort sicherte sich der Meister das Gelände einer Borgward-Vertretung mit angeschlossener Werkstatt, die die Russen zuvor beschlagnahmt und demontiert hatten. Dort bauten er und seine Mitstreiter erst mal Spezialfahrzeuge für die Dresdner Fahrbücherei, Entseuchungsfahrzeuge wie auch Bestattungswagen der Stadt Dresden. Mehr und mehr rückten ins Produktionsprogramm insbesondere Schaustellerwagen für das „Fahrende Volk“ , die so ganz anders ausfielen als all jene Wagen, die bis dahin im Zirkus- und Jahrmarkts-Milieu in Gebrauch waren.

Gemeinsam mit Sohn Manfred eigene Formsprache entwickelt

Nachdem der Sohn Manfred aus dem Westen zurückgekehrt war (wo er studiert hatte, was ihm im unternehmerfeindlichen Arbeiter- und Bauernstaat verwehrt worden war), ging Richard Nagetusch, der es zum Landesobermeister des Stellmacherhandwerks gebracht hatte, daran, einen modernen Wohnwagen zu konzipieren, der auch in Serie hergestellt werden konnte. Der hatte mit seinen gebogenen Fenstern, den Wänden aus speziell gebürstetem Aluminium und dem doppelgewölbten Dach eine ganz eigene Formsprache, die damals den internationalen Vergleich nicht zu scheuen brauchte.

Binnen kurzem eine ganze Modellpalette aus dem Boden gestampft

Auf der Leipziger Herbstmesse 1958 stellten die Nagetuschs gleich eine ganze Modellpalette vor. Alle drei Campingwagen „versprühten westliches Flair“, die Messestände waren dicht umlagert. Der Name des kleinsten Wagens lautete „Cabinet“. Dann gab es den drei Meter langen Typ „Brillant“ – dieses Modell wurde später im Rahmen der Konsumgüterproduktion in der DDR zur Erhöhung der Stückzahlen in Lizenz auch im VEB Schiffswerft Rechlin im Kreis Neustrelitz hergestellt. Spitzenmodell war der vier Meter lange, für drei Erwachsene und zwei Kinder ausgelegte „Exquisit“. Alle drei Modelle „besaßen die schon vorher bei Doppelachsern angewandten Merkmale hinsichtlich Form und der gebürsteten Aluminiumhaut, gänzlich ohne farbige Markierung“. Der „Exquisit/4,0“ und der noch etwas später entwickelte „Excellent/4,4“ waren die „Königsklasse“ im Nagetusch-Programm. Auch die Innenausstattung war für ihre Zeit „die Spitze dessen, was der Kunde an hochwertigen Materialien, solider Verarbeitung und geschmackvoller Gestaltung erwarten konnte“, halten die Autoren fest. In damaligen Presseberichten war von einem „fahrenden Hotel“ die Rede.

Auf diesem Prospekt strich Nagetusch - offensichtlich gerichtet an Kunden aus dem Westen - heraus, dass seine Wohnwagen auch für "„anormal hohen Geschwindigkeiten über 100 km/h“ geeignet seien. Repro (hw) aus: Hartwig/Suhr: "Nagetusch..."

Auf diesem Prospekt strich Nagetusch – offensichtlich gerichtet an Kunden aus dem Westen – heraus, dass seine Wohnwagen auch für „„anormal hohen Geschwindigkeiten über 100 km/h“ geeignet seien. Repro (hw) aus: Hartwig/Suhr: „Nagetusch…“

Auch für „anormal hohen Geschwindigkeiten über 100 km/h“ geeignet

Die Nagetusch-Wohnwagen waren nicht für Otto-Normal-Genosse gedacht. Man baute, so frank und frei die Eigenwerbung, bewusst „Wagen für den verwöhnten Geschmack“, die hinsichtlich Preis und Größe auf einen exklusiven Käuferkreis zugeschnitten und damit nicht das waren, „was der sozialistische Staat wollte“. Auch ins „Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet“ konnte der Dresdner Betrieb seine Wohnwagen exportieren. In seinen Werbeprospekten pries Nagetusch deshalb unter anderem das sichere Fahrverhalten auch bei „anormal hohen Geschwindigkeiten über 100 km/h“ an, die in der DDR ohnehin verboten waren.

Richard Nagetusch (rechts) im Gespräch mit DDR-Außenhandelsminister Heinrich Rau. Repro (hw) aus: Hartwig/Suhr: "Nagetusch..."

Richard Nagetusch (rechts) im Gespräch mit DDR-Außenhandelsminister Heinrich Rau. Repro (hw) aus: Hartwig/Suhr: „Nagetusch…“

Bei Honeckers Verstaatlichungswelle 1972 enteignet

Doch trotz der Westexporterlöse für die devisenklamme DDR und der großen Beliebtheit seiner Wohnwagen entging der Privatier Nagetusch letztlich nicht der Enteignung: Als Erich Honecker in Absprache mit Moskau 1972 die Reste des ostdeutschen Mittelstandes ausrottete, verstaatlichte die SED auch den Dresdner 20-Mann-Betrieb im Zuge der letzten großen Enteignungswelle. Zunächst unter dem Namen VEB Campingwagenbau Dresden firmierend, wurde der Wohnwagenbau später dem VEB Karosseriewerk Dresden zugeordnet. In diesem Betrieb war zuvor die ebenfalls verstaatlichte Cabrio-Schmiede „Gläser“ aufgegangen – das Nachfolgeunternehmen firmiert heute als „KWD Automotive AG & Co. KG“ in Radeberg.

Nachdem der SED-Staat Nagetusch enteignet hatte, setzte ein anderer VEB den Wohnwagenbau noch für kurze Zeit fort: Das Zweigwerk Rosenthal in der Sächsischen Schweiz funktionierte einige dort zuvor in Nagetusch-Lizenz gefertigten Verkaufswagen zu Wohnwagen um und fertigten sie mindestens bis 1973 weiter. Danach verschwand nicht nur der Name Nagetusch in der Versenkung, auch die Produktion lief still und leise aus.

Neues Design war bereits überfällig

Da war Richard Nagetuschs Sohn Manfred schon längst in den Westen geflüchtet – und zwar im Mai 1963 mit Hilfe eines Diplomaten im Kofferraum eines Autos über den Grenzübergang Friedrichstraße. In Westdeutschland konnte er über einen Strohmann Wagen seines Vaters verkaufen. Aber schließlich kam der Nagetusch-Wohnanhänger „in die Jahre“, wie eingeräumt wird. „Er war durch seine solide Arbeit vergleichsweise schwer und sein Styling entsprach inzwischen nicht mehr dem Zeitgeschmack. Im Automobilbau kamen runde, ausladende Formen und Chrom zunehmend in Mode“, schreiben Hartwig und Suhr.

Werbefoto mit dem Mercedes von Sohn Manfred und Nagetusch-Wohnwagen vor dem Dresdner Zwinger. Repro (hw) aus: Hartwig/Suhr: "Nagetusch..."

Werbefoto mit dem Mercedes von Sohn Manfred und Nagetusch-Wohnwagen vor dem Dresdner Zwinger. Repro (hw) aus: Hartwig/Suhr: „Nagetusch…“

Verhaftet, freigekauft, vergessen

1970 wurde Richard Nagetusch, der 1967 von der SED-Nomenklatura noch mit dem Ehrentitel „Aktivist des Siebenjahrplanes“ bedacht worden war, unter dem Vorwand des Verstoßes gegen Wirtschaftsgesetze in der DDR verhaftet und saß ein Jahr lang in der Untersuchungshaftanstalt in der Bautzner Straße. Dort traf er übrigens auch den Komiker Eberhard Chors, der einer seiner Kunden gewesen war. 1971 wurde Richard Nagetusch von der Bundesrepublik Deutschland freigekauft. Schließlich starb er am 12. Juni 1989, also vor Mauerfall und Wiedervereinigung, in Wiesbaden.

Heute existieren vermutlich noch 80 Nagetusch-Wagen

Im Epilog wird festgehalten, dass den Autoren noch etwa 80 existierende Nagetusch-Wagen bekannt sind, „einige warten noch auf eine Erweckung aus dem Dornröschenschlaf“. Auf Massenproduktion war es nie hinausgelaufen, dafür war der Betrieb stets zu klein gewesen. Zeitgenössische Quellen sprechen von einer Kapazität von jährlich etwa 70 Wagen, „die jeweils in Kleinserien zu sechs Stück aufgelegt wurden“.

Bildergalerie von "froehlichsingen"
von einem Nagetusch-Treffen
2018 in Dresden:

Wohnwagen diente auch als Betriebsferienplatz

Einer dieser Wagen ging immer an die Ostsee. Richard Nagetusch sorgte als Handwerksmeister vom „alten Schrot und Korn“ für seine Belegschaft. Jedes Jahr wurde ein werkseigenes Wohnwagen-Exemplar auf einen der zahlreichen Zeltplätze an der Ostsee gefahren und stand dort bis Herbst den Betriebsmitarbeitern und ihren Angehörigen als Feriendomizil zur Verfügung. Ganz nebenbei war dies auch eine Produkt- und Qualitätsprüfung im eigenen Haus, die manche Erkenntnis im praktischen Betrieb lieferte.

Titelbild von Hartwig/Suhr: "Nagetusch - Wohn-Anhänger aus Dresden" vom Kraftakt-Verlag, Repro: hw

Titelbild von Hartwig/Suhr: „Nagetusch – Wohn-Anhänger aus Dresden“ vom Kraftakt-Verlag, Repro: hw

Frank Hartwig, Christian Suhr: Nagetusch: „Wohn-Anhänger aus Dresden“. Kraftakt-Verlag, 134 Seiten, 29,95 Euro, ISBN: 3938426233, erhältlich über die Webseite www.sammelsuhrium.de

Autor der Rezension: Christian Ruf

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt