Junges Unternehmen will gepflücktes Naturmaterial als Alternative zum Kunststoff etablieren
Görlitz/Dresden, 13. Januar 2022. Mit Birkenrinde aus Sibirien will die junge Manufaktur „Nevi“ in Görlitz dazu beitragen, dass sich Häuserbauer und Bauwirtschaft in Deutschland wieder verstärkt natürlichen und nachwachsenden Materialien wie eben Holz als Alternative zu Kunststoffen zuwenden. Sie stellen aus der Rinde der nordischen Birke beispielsweise Türgriffe und Fußbödenbelege her. Dies sind – anders als klassisches Holz aus Baumstämmen – „auf natürliche Weise wasserabweisend“, wie sie selbst sagen.
Rinde weist von Natur aus Wasser ab
Ihrer Birkenrinde schreiben die Görlitzer auch einen besonderen emotionalen Wert zu: Sie komme der „Sehnsucht der Menschen nach lebendigen, gesunden Materialien“ und nach einer „warmen, samtigen Haptik“ entgegen, meint Nevi-Sprecherin Anne Döring. Derzeit entwickeln sie gemeinsam mit Fraunhofer auch naturnahe Klebstoffe für ihre Rinde.
Alter Werkstoff Holz erlebt eine Renaissance in Sachsen
Mit dieser Hinwendung zum Holz und verwandten Naturmaterialien stehen die Görlitzer nicht allein da: Forscher wie Professor André Wagenführ von der TU Dresden sehen enorme Perspektiven in einer „holzbasierten Bioökonomie“. In Sachsen, wo sich in den vergangenen Jahren zahlreiche Unternehmen mit holz- und papierbasierten Innovationen vom Holzfahrrad bis zum Papp-Notbett hervorgetan haben, ist inzwischen oft die Rede von einer Renaissance von Holz, Papier & Co.
Sibirier ernten Rinde, ohne die Birken zu fällen
Speziell im Falle von Nevi handelt es sich um ein Konzept, für das laut Unternehmensangaben keine Wälder dezimiert werden: Die sibirischen Familien pflücken die Rinde ihrer Birken, ohne sie zu fällen. „Nur die Rinde der Birke wird geerntet und der Baum bleibt dem natürlichen Kreislauf erhalten, er wird dem Wald nicht entnommen“, betont Nevi-Gründer Mergelsberg. „Die Ernte erfolgt schonend per Hand und nicht mit schwerem Gerät, das den Boden verdichtet.“
Regionale Wertschöpfungskette in Ostsachsen aufgebaut
Auf das Konzept war Tim Mergelsberg während eines Studienaufenthalts 2005 in Russland gestoßen: Beim Aufbau einer Behindertenwerkstatt in Sibirien lernte er laut eigenem Bekunden „das uralte Handwerk der Rindenverarbeitung“ kennen und war von dem vielseitigen Naturmaterial begeistert. 2019 gründete er das Unternehmen Nevi. Das importiert seither diese Birkenrinde aus der sibirischen Taiga und presst sie in Görlitz unter hohem Druck zu Blöcken. Die verarbeitet Navi gemeinsam mit regionalen Partnern wie den Görlitzer Werkstätten zu Türgriffen, Fahrradlenker-Griffen oder rutschfesten Bad-Fußböden. Rinden-Möbel sowie ein Mehrkomponenten-Werkstoff aus Rinde und Polymeren befinden sich in der Entwicklung.
Die Kunststoff-Alternative ist offensichtlich nicht ganz billig. Wieviel teurer ihre Griffe und Böden aus Birkenrinde im Vergleich zu klassischen Produkten sind, teilte das Unternehmen auch auf Anfrage nicht genau mit. In der Antwort hieß es dazu nur: Rinde als Werkstoff sei teurer, „da in unseren Produkten viel liebevolles Handwerk steckt, viel Nachhaltigkeit, viel Innovation.“ Jeder Block, aus dem später Furniere oder Griffe werden, sei ein Unikat.
Görlitz als familienfreundliche Start-up-Metropole
Dass Nevi große Teile dieser Wertschöpfungskette in der Grenzstadt zwischen Sachsen und Polen konzentrierte, hat im Übrigen gute Gründe: „Görlitz ist familienfreundlich“, erklärt Anne Döring. Die Stadt habe sich zu einer „Start-up-Metropole mit vielen Fördermöglichkeiten“ entwickelt. Erst kürzlich bekam Nevi auch einen Corona-Zuschuss für Start-ups aus den Fördertöpfen des sächsischen Wirtschaftsministeriums in Dresden. Mittlerweile hat das Unternehmen sechs Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, unterstützt von Freischaffenden und Praktikantinnen.
Team fühlt sich der Unternehmung verpflichtet, nicht dem Gewinn
Chef Tim Mergelsberg steckt für seine Gründung indes nicht nur ökologische, sondern auch gemeinnützige Ziele ab: Er hat Nevi als „Unternehmen in Verantwortungseigentum“ definiert. Was das in der Praxis heißt, beschreibt Anne Döring so: „Entscheidungen werden dauerhaft im Unternehmen gelassen. Nevi ist nicht verkäuflich, da es keine Anteile mit Stimmrechten außerhalb des Unternehmens gibt. Wir können so dauerhaft dem Standort erhalten bleiben.“ Das Team fühle sich der Unternehmung verpflichtet, aber keinem Kapitalinteresse. Zudem bietet dieses Konzept auch die Chancen, eine „neue Arbeitswelt“ mitzugestalten.
Was ist Verantwortungseigentum?
„Verantwortungseigentum“ ist ein Begriff aus der Debatte um den Sinn und Zweck wirtschaftlichen Agierens. Eine allseits akzeptierte präzise Definition gibt es dafür aber bisher nicht. Gemeint sind meist Unternehmen, deren Gewinne mehr oder minder vollständig in den Unternehmenszweck fließen, also zum Beispiel in Forschung und Entwicklung oder Investitionen. Die Eigentümer dürfen die Gewinne in solchen Fällen nicht für eigene Zwecke entnehmen. Außerdem verstehen viele Verfechter dieses Konzepts unter Verantwortungseigentum nicht vererbbare Betriebe, die sich mehrheitlich nur im Eigentum von Menschen befinden, die auch tatsächlich im Unternehmen arbeiten. Eigner können also zum Beispiel mitarbeitende Chefs sein, aber auch die Belegschaft.
Auch Industrieveteranen wie Bosch und Zeiss kann man als „Verantwortungseigentum“ etikettieren
Für „Verantwortungseigentum“ gibt es in Deutschland – anders als in Dänemark – keine eigene Rechtsform. Die Görlitzer Nevi zum Beispiel ist als GmbH organisiert. Einige deutsche Unternehmen, die sich selbst heutzutage als „Verantwortungseigentum“ verstehen, sind sehr alt. Dazu gehören beispielsweise Bosch und Zeiss, die Stiftungen gehören. Insofern ist Verantwortungseigentum kein wirklich neues Konzept, hat aber in jüngster Zeit im Zuge der wiederaufgelebten „Kapitalismus“-Kritik einigen Rückenwind erhalten.
Autor: Heiko Weckbrodt
Quellen: Nevi, SMWA, Oiger-Archiv, purpose-economy.org, Wikipedia
Zum Weiterlesen:
Hölzerner Corona-Schutz aus der Jungholz-ManufakurÂ
Ligenium feilt an Holzrenaissance in der Industrie
Ihre Unterstützung für Oiger.de!
Ohne hinreichende Finanzierung ist unabhängiger Journalismus nach professionellen Maßstäben nicht dauerhaft möglich. Bitte unterstützen Sie daher unsere Arbeit! Wenn Sie helfen wollen, Oiger.de aufrecht zu erhalten, senden Sie Ihren Beitrag mit dem Betreff „freiwilliges Honorar“ via Paypal an:
Vielen Dank!
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.