TU Chemnitz stellt Konzept für mikroelektronische Morphogenese künstlicher Organismen vor
Chemnitz, 11. Oktober 2023. Nach den Mikrorobotern, die sich selbst „zurechtfalten“, wollen sächsische Forscher nun den nächsten Schritt gehen hin zu winzig kleinen Cyborg-Mischwesen. Konkret forschen sie an halb lebendigen, halb anorganischen Schwarm-Organismen, die ihre Form und Fähigkeiten je nach aktueller Aufgabe ändern und sich am Ende ihres künstlichen „Lebens“ selbst recyceln. Ein entsprechendes technologisches Konzept haben nun Forscher der TU Chemnitz vorgestellt. Zugleich versprechen sie eingebaute anti-dystopische Sicherungen gegen eine unkontrollierte Vermehrung ihr Mini-Cyborgen.
Leben ohne organische Komponenten
Die Parallelen zu den „Cyborgs“ aus Film und Fernsehen sind indes begrenzt: Das Konzept zielt zwar letztlich auf kybernetische Lebewesen, aber die werden – anders als beispielsweise „Robocop“ – keine organischen Komponenten enthalten. „Sie sind keine Biohybride, sie nutzen keine biologischen Komponenten oder Organismen oder genetische Informationen von Organismen“, betont Prof. John McCaskill von der TU Chemnitz. Sie sollen vielmehr „vollständig anorganisch und möglicherweise vollständig lebendig“ sein.
Smartlet aus Mikrorobotikmodulen und anorganischen Chips als Grund-Baustein
Als elementaren Bausteine solcher mehr oder minder „lebender Technologie“ wollen die Sachsen kleine „Smartlets“ konstruieren: Universelle und umformbare Mikrorobotik-Module mit eingebetteten siliziumbasierten Chiplets. Diese Smartlets sollen zur „mikroelektronischen Morphogenese“ imstande sein, also fähig sein, sich zu größeren künstlichen Organismen in verschiedenen Formen zusammenzuschließen. Durch die integrierten Silizium-Chips können sie „Rezepte“ für verschiedene Formen und Handlungsstrategien speichern und diese ähnlich wie das Erbgut in natürlichen Lebewesen reproduzieren.
Mini-Cyborgen sollen zum neuromorphen Lernen und Evolution imstande sein
„Darüber hinaus verfügen die Chiplets über neuromorphe Lernfähigkeiten, die es den Smartlets ermöglichen, ihre Leistung zunehmend und evolutionär zu verbessern“, skizzieren die Chemnitzer TU-Forscher ihre Konzepte. „Während und nach der Selbstorganisation zu einem künstlichen Organismus werden sowohl fluidische als auch elektrische Verbindungen zwischen den Smartlets aufgebaut. Diese Verbindungen können genutzt werden, um den Chiplets an Bord den Zustand des künstlichen Organismus ,bewusst’ zu machen, so dass sie Reparaturen anordnen, Fehlmontagen korrigieren, Demontagen einleiten und gemeinsame Funktionen über viele Smartlets hinweg bilden können.“ Dazu sollen Kommunikation, „Sinne“ über die eingebaute Sensorik, Energiespeicherung, -gewinnung und -umverteilung, Fernerkundung sowie Materialumverteilung gehören. Und sie sollen sich schließlich auch wieder in ihre Basiseinheiten zerlegen können, wenn ihre Aufgaben erfüllt und neue Kunstwesen gebraucht werden. Dieses Konzept folge einem „völlig neuen Verständnis von Nachhaltigkeit“, betonen die Wissenschaftler.
Rückversicherung: Erbgut-Speicher kann nur in Chip-Fabriken hergestellt werden
In vielen Punkten würden diese Klein-Cyborgen also wichtige Kriterien von Leben erfüllen: Reproduktionsfähigkeit, Wachstum, Anpassungsfähigkeit, Evolution. Möglich sei sogar eine gewisse „Selbstwahrnehmung“ des eigenen Zustandes. Damit dieses Konzept für künstliches Leben indes nicht in ein unkontrollierbares Horror-Science-Fiction-Desaster ausartet, wollen die Forscher ihre Cyborgen einschränken: „Die essenziellen Silizium-Komponenten von Smartlets können nur unter menschlicher Kontrolle in spezialisierten Halbleiterfabriken hergestellt werden“, versichern die Chemnitzer. „Daher besteht für künstliche Organismen keine Möglichkeit einer unkontrollierten Verbreitung in der Umwelt.“
Doku soll jederzeit im Schwarm auslesbar sein
Zudem sollen in den anorganischen Bauteilen des Cyborgen zentrale Informationen gespeichert sein. Dadurch soll der „materielle Gehalt“, der Urheber und umweltrelevante Faktoren der künstlichen Organismen jederzeit auslesbar sein. „Diese feinkörnige Dokumentation der Verantwortung bis in den mikroskopischen Bereich hinein wird die rechtliche Zuordnung von ökologischer und sozialer Verantwortung für unsere technischen Errungenschaften grundlegend verändern“, ist Jura-Professorin Dagmar Gesmann-Nuissl überzeugt.
Erste Mikroroboter funktionieren schon
Vom nun vorliegenden Konzept bis zu einer Massenproduktion solcher Smartlets sind zwar zunächst noch viele Probleme zu lösen. Wie solch eine Basiseinheit prinzipiell funktionieren kann, hat Prof. Oliver Schmidt vom „Forschungszentrum für Materialien, Architekturen und Integration von Nanomembranen“ (Main) der TU Chemnitz aber bereits gezeigt: Er hatte in den vergangenen Jahren und Monaten mit immer neuen Mikroraketen, -robotern und energiespeichern in Dresden und Chemnitz für Schlagzeilen gesorgt. In den Smartlets möchte er diese Einzellösungen zu komplexen Kleinstsystemen zusammenführen, die unter anderem auch kommunizieren, „fühlen“, sich neu falten und mit Silizium-Chips symbiotisch verbinden können.
Womöglich in Medizin, Landwirtschaft, im Weltraum oder bei Rettungseinsätzen einsetzbar
Einsatzfelder für solche anorganischen Lebewesen sehen die Forscher perspektivisch beispielsweise in der Medizin, Landwirtschaft, in der Weltraumforschung, in der Krebsdiagnostik und später auch in der Forstwirtschaft oder im Meeresmanagement. Potenzielle Anwendungen seien überall dort zu sehen, „wo intelligente Funktionalität mit kleinen Geräten oder Werkzeugen erforderlich ist, die ihre Form und Struktur auf kontrollierte Weise neu konfigurieren können“, erklärt John McCaskill. Solche Formänderungen könnten es diesen Organismen zum Beispiel ermöglichen, in entlegene und normalerweise unzugängliche Räume einzudringen und dort Strukturen und Größen anzunehmen, die sonst nicht dorthin gelangen könnten. „Potenzielle Anwendungen sind beispielsweise der Zusammenbau diagnostischer oder therapeutischer Geräte für die nicht-invasive medizinische Chirurgie, die Bildung von Wachstumsgerüsten für die Gewebezüchtung, der Einsatz für Reparaturen oder die Reinigung mechatronischer Geräte oder in etwas größeren Maßstäben das Eindringen durch Erde oder Schutt zu blockierten Orten und Räumen bei zum Beispiel bei Rettungseinsetzen nach Erdbeben.“
Autor: Heiko Weckbrodt
Quelle: TU Chemnitz
Wissenschaftliche Publikation:
„Microelectronic Morphogenesis: Smart Materials with Electronics Assembling into Artificial Organisms“ von John S. McCaskill, Daniil Karnauschenko, Minshen Zhu und Oliver G. Schmidt, in: „Advanced Materials“, Oktober 2023, DOI: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/adma.202306344
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