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Fraunhofer-Forscher entwickeln in Sachsen KI mit Deutsch als „Muttersprache“

Dr. Nicolas Flores-Herr leitet die Dresdner Außenstelle des Fraunhofer-Instituts für Intelligente Analyse- und Informationssysteme (IAIS). Foto: Heiko Weckbrodt

Dr. Nicolas Flores-Herr leitet die Dresdner Außenstelle des Fraunhofer-Instituts für Intelligente Analyse- und Informationssysteme (IAIS). Foto: Heiko Weckbrodt

Jüngste Fraunhofer-Ansiedlung in Dresden baut europäische Alternativen zu Sprachmodellen aus den USA und China auf

Dresden, 9. Januar 2023. Experten für „Künstliche Intelligenz“ (KI) arbeiten in Sachsen an einem ambitionierten Technologieprojekt, das die digitale Souveränität Europas deutlich stärken soll: Ein 20-köpfiges Team um Dr. Nicolas Flores-Herr vom Fraunhofer-Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme (IAIS) arbeitet derzeit in den „Universellen Werken Dresden“ an Wissensgraphen, Dialogsystemen und einem eigenen Sprachmodell für Künstliche Intelligenzen mit Deutsch als „Muttersprache“ – wobei die KI sogar imstande sein soll zu sächseln.

„Wasch den Seidenschal bitte kalt, liebe Waschmaschine!“

Diese Werkzeuge sollen beispielsweise flüssige Gespräche mit Alltagsrobotern, artifiziellen Experten, ja selbst mit Haushaltsgeräten erlauben. „Dialogsysteme erleichtern jetzt schon unseren Alltag und werden sich künftig noch verbessern“, erklärt KI-Forscher Flores-Herr. „Es wäre doch schön, wenn man die Waschmaschine einfach fragen könnte, wie sie funktioniert, statt 1000 Seiten Bedienungsanleitung durchlesen zu müssen.“

Sprachmodelle, Wissensgraphen und Dialogsysteme im Fokus

Dahinter steckt ein Zusammenspiel verschiedener KI-Werkzeuge.

  • Sprachmodelle zum Beispiel entstehen durch langes Training an von Menschen verfassten Texten. Damit weiß eine KI beispielsweise, welche Buchstabenfolgen und Silben für ihre „Muttersprache“ typisch sind.
  • Wissensgraphen anderseits sind „eine funktionale Repräsentanz von Faktenwissen“, so Flores-Herr. Vorstellen kann man sich das ähnlich wie ein Gehirn, dessen Neuronen und Synapsen nie aufhören zu wachsen: Um beispielsweise eine Künstliche Intelligenz so zu trainieren, dass sie quasi zum „Experten für Barockmusiker“ werden kann, sammelt die KI mehr und mehr Namen, Werke und biografische Daten von Komponisten der frühen Neuzeit und verknüpft diese Informationen miteinander. Sie kann dadurch zum Beispiel erläutern, wie sich barocke Musiktrends von Italien über Frankreich, Deutschland und Österreich ausgebreitet haben und welche Barockmusiker sich womöglich wo über den Weg gelaufen sein könnten.
  • Dialogsysteme wiederum sind KIs, die darauf spezialisiert sind, möglichst menschenähnlich mit Menschen plaudern zu können.

In der schwarzen "Echo"-Box auf dem Schemel links hockt Amazons Sprachsteuer-Aissistentin Alexa. Sie lässt sich per Sprachbefehl aktivieren, lauscht dann in den Raum hinein und spielt zum Beispiel Musik auf Kommando ab oder dimmt das Licht. Foto: Amazon

In der schwarzen „Echo“-Box auf dem Schemel links lauert Amazons Sprachsteuer-Assistentin Alexa. Foto: Amazon

Heutige KIs sind oft englisch oder chinesisch sozialisiert

Besonders dominant in diesen Disziplinen sind bisher Google, Amazon, Meta, Alibaba sowie andere US-amerikanische und chinesische Konzerne. Europäische Unternehmen und Institute arbeiten zwar auch an vielen KI-Projekten. Dabei handelt es sich aber oft um hochspezialisierte KI-Anwendungen, die auf Basistechnogien und Trainingsdaten aus den USA aufbauen. Damit wollen sich Deutschland und Europa indes nicht abfinden und haben eine Aufholjagd in dieser Schlüsseltechnologie gestartet.

Prestige-Projekt „Open GPT-X“ soll bis Ende 2024 deutsches KI-Sprachmodell generieren

Dazu gehört unter anderem das Vorhaben „Open GPT-X“, für das das Bundeswirtschaftsministerium rund 14 Millionen Euro Fördergeld zugesagt hat. „Dahinter steht ein großes Konsortium mit zahlreichen Partnern“, berichtet Projektkoordinator Flores-Herr. „Da ist ein richtig dickes Brett zu bohren: Bis Ende 2024 wollen wir ein eigenes europäisches Sprachmodell entwickeln. Das ist angesichts einer Konkurrenz, die Hunderte Milliarden Dollar in ihre KI-Sprachmodelle investiert hat, tatsächlich eine große Herausforderung.“ Die Federführung hat die noch junge Dresdner IAIS-Dependance übernommen.

Die Dresdner Außenstelle des Fraunhofer-IAIS forscht in den Universellen Werken Dresden. Foto: Heiko Weckbrodt

Die Dresdner Außenstelle des Fraunhofer-IAIS forscht in den Universellen Werken Dresden. Foto: Heiko Weckbrodt

IAIS-Ableger wächst in den Universellen Werken Dresden

Die entstand 2019 als kleines Außenbüro des in Sankt Augustin beheimateten Fraunhofer-Instituts für Intelligente Analyse- und Informationssysteme. „Das Fraunhofer IAIS forscht seit Langem an Maschinellem Lernen Künstlicher Intelligenz und Big Data – und ist dabei eng mit einschlägigen Universitäten vernetzt“, erzählt Flores-Herr, wie es zur jüngsten Fraunhofer-Ansiedlung in Dresden kam. Angesichts der Kompetenzen der TU Dresden sowie der vielen außeruniversitären Institute in der Stadt, aber auch mit Blick auf die starke Konzentration von Hochtechnologie-Industrien im „Silicon Saxony“ gründete das westdeutsche IAIS die besagte Außenstelle in Dresden. Das Büro wuchs binnen kurzer Zeit auf ein 20-köpfiges Team von jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. „Wir bauen unseren Standort hier in Dresden auch weiter aus“, kündigte Flores-Herr an, der seit 2022 die Außenstelle leitet. „Wir wollen hier in naher Zukunft auf etwa 30 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wachsen.“

Europäer brauchen mehr Daten und Rechenpower

Und „Open GPT-X“ wird noch viel mehr konzentrierte Expertise brauchen, denn die Konkurrenz ist stark und die Herausforderung immens: „Wir haben weit weniger Daten und Rechenpower als die Wettbewerber, und der Vorsprung von Meta & Co. ist immens“, ist auch dem Dresdner KI-Kollektiv klar. Auch deshalb sind Schwergewichte wie das Forschungszentrum Jülich, das „Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz“ (DFKI), das Dresdner Zentrum für Informationsdienste und Hochleistungsrechnen (ZIH) und weitere potente Partner mit an Bord. Das FZ Jülich und die TU Dresden spannen ihre Supercomputer für die gemeinsame Aufgabe ein, andere wie die Firma „Aleph Alpha“ bringen ihre Erfahrungen mit KI-Training ein, wieder andere füttern das neue Sprachmodell mit digitalen Büchern, frei zugänglichen deutschen Texten, der Literatur aus dem Gutenberg-Projekt, mit Hochschulschriften und anderen Lerndaten.

Künstliche Intelligenzen aus Europa sollen mit deutschen und anderen europäischen Sprachmodellen arbeiten. Visualisierung durch die KI Dall-E

Künstliche Intelligenzen aus Europa sollen mit deutschen und anderen europäischen Sprachmodellen arbeiten. Visualisierung durch die KI Dall-E

Parallel dazu arbeitet das Dresdner Fraunhofer-Team an „Wissensgraphen“, mit denen eine KI zur Expertin für Klimaschutz, Automobilbau und weitere Wissensgebiete aufgerüstet werden kann. Und im Zuge des „Allinga“-Projektes feilen die Dresdner Experten gemeinsam mit Bonner Kolleginnen und Kollegen sowie dem Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen IIS auch an einem System, das gesprochene deutsche Sprache möglichst fehlerfrei in Texte umwandelt – ein Problem, an dem die meisten Spracherkennungs-Systeme heute meist noch mehr oder minder grandios scheitern.

KI soll auch sächseln können

Am Ende all dieser Forschungsvorhaben sollen offene, datenschutzgerechte und diskriminierungsfreie „Künstliche Intelligenzen“ stehen, die alle Europäer kostenlos und frei nutzen können. „Wir sehen darin einen wichtigen Beitrag für die digitale Souveränität Europas“, betont Flores-Herr. Und auch etwas Lokalkolorit fließt in die Forschungen ein: Die KIs, an denen die Dresdner arbeiten, sollen nämlich auch Sächsisch und andere Dialekte verstehen und aktiv nutzen können. Und das ist keine Zukunftsmusik: Im sächsischen Landtag ist bereits eine Spracherkennung des IAIS im Einsatz, die den sächsischen Dialekt versteht und die für die Live-Untertitelung von Videos zur Übertragung der Plenarsitzungen genutzt wird.

Auch eine Frage der Moral

Abgesehen von der hohen KI-Nachfrage aus der Industrie und ganz besonders aus dem deutschen Mittelstand sieht der IAIS-Außenstellenleiter auch einen hohen gesellschaftlichen Bedarf an einer genuin europäischen KI-Entwicklung: „Wir sehen da auch eine soziale Relevanz, wenn wir zum Beispiel an die Möglichkeiten zur Förderung von Barrierefreiheit bei den Fernsehsendern denken. Hier können etwa komplizierte Texte in einfache Sprache übersetzt werden“, sagt Flores-Herr. Daher sei bei „Open GPT-X“ auch der WDR mit dabei. Der KI-Forscher sieht in dem Projekt zudem eine ganz generelle ethische Notwendigkeit: „Wer die Entscheidungen Künstlicher Intelligenzen erklärbar und nachvollziehbar machen will, wer die Ethik einer KI mitbestimmen will, der kommt um die Entwicklung eigener KI-Basistechnologien nicht herum.“

Kulturelle Folgen absehbar

Und wer hier nicht in der ersten Reihe mitspielt, könnte künftig in immer mehr Sektoren ganz den Anschluss verlieren – sei es nun Wirtschaft, Kultur oder akademisches Leben. „KIs werden in den kommenden 30 Jahren eine wachsende Rolle in der Entwicklung unserer Kultur und Sprache spielen“, ist Flores-Herr überzeugt. „Deutsch, Litauisch, Baskisch und viele andere europäische Sprachen könnten viel an Relevanz verlieren, wenn es dafür keine KI-Sprachmodelle gibt.“

Deutschland müht sich um KI-Talente

Und nicht zuletzt drohen auch technologische Abwärtsspiralen, wenn Europas Firmen und Institute gar nicht versuchen, in der obersten Liga mitzuspielen. Schon jetzt ist Deutschland eher eine Drehscheibe für KI-Talente zwischen Ost und West als ein finales Zielland, hatte erst kürzlich die Berliner Denkfabrik „Neue Verantwortung“ in einer Studie herausgearbeitet. Demnach bilden sich an deutschen Unis durchaus viele Nachwuchsforscher aus Indien, China, Russland & Co. aus, wechseln zu großen Teilen aber nach wenigen Jahren zu den großen amerikanischen Tech-Firmen mit ihren großen Budgets und anspruchsvollen KI-Projekten. Und auch Flores-Herr warnt: „Wir haben sehr viele kluge Köpfe hier. Nur mit den notwendigen Rahmenbedingungen und dazugehörige herausfordernden Aufgaben, an denen sie wachsen können, Spaß haben und die Welt verändern können, werden wir sie holen und halten können.“

Autor: Heiko Weckbrodt

Quellen: Interview Flores-Herr, Oiger-Archiv, SNV, BMWK

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt