Forschung, Halbleiterindustrie, Kommunikation, News, zAufi

Corenext will Europas Funkchip-Lücke schließen

Corenext-Projektleiter Michael Roitzsch und Ko-Geschäftsführer Tim Hentschel arbeiten im Barkhausen-Institut unter anderem an vertrauenswürdigen Prozessoren, Betriebssystemen und offenen Netzwerk-Architekturen für 6G und die europäische Telekommunikations-Industrie. Foto: Heiko Weckbrodt

Corenext-Projektleiter Michael Roitzsch und Ko-Geschäftsführer Tim Hentschel arbeiten im Barkhausen-Institut unter anderem an vertrauenswürdigen Prozessoren, Betriebssystemen und offenen Netzwerk-Architekturen für 6G und die europäische Telekommunikations-Industrie. Foto: Heiko Weckbrodt

Barkhausen-Institut Dresden schmiedet Konsortium, das europäische Lücken im Prozessordesign für 6G-Mobilfunk mindern soll

Dresden, 4. August 2022. Damit Europa ein Stück kommunikations-technologischer Souveränität zurückgewinnt, startet das Barkhausen-Institut Dresden im Januar 2023 das mit 13 Millionen Euro dotierte EU-Projekt „Corenext“. Das zielt unter anderem auf den Entwurf europäischer Prozessorkerne („Cores“) der nächsten („Next“) Generation. Dafür hat der Dresdner Mobilfunk-Guru Prof. Gerhard Fettweis ein Konsortium aus 23 Partnern geschmiedet, darunter Nokia, Ericsson, Infineon und NXP. Binnen drei Jahren wollen die beteiligten Unternehmen und Forschungseinrichtungen binnen drei Jahren eigene Prozessoren, Antennen, verlässliche Architekturen und Betriebssysteme für den Mobilfunk der Zukunft entwerfen. Das haben der designierte Projektleiter Michael Roitzsch und Instituts-Ko-Geschäftsführer Tim Hentschel angekündigt.

Eigenes europäisches Multiprozessor-Konzept geplant

„Zum Projektende wollen wir den Prototypen eines Multiprozessor-Systems vorlegen, aus dem dann die europäischen Telekommunikations- und Halbleiterunternehmen eigene Schaltkreise bauen können“, kündigte Tim Hentschel an. Auf dem Weg zum Mobilfunk der 6. Generation und späterer Telekommunikations-Standards soll „Corenext“ der hiesigen Industrie wichtige Wettbewerbsvorteile sichern und Europa weniger abhängig von Schlüsselzulieferungen aus den USA und aus Asien machen.

Quelloffenes Konzept soll Hintertüren für Spione unmöglich machen

Dies hat zudem eine sicherheitspolitische Dimension „Was wir hier entwickeln, werden wir als Open Source deklarieren“, betonte Hentschel. Das bedeutet, dass das Konsortium die Funktionsweise seiner neuentworfenen Hard- und Software öffentlich und transparent dokumentieren und freigeben wollen. Dadurch ist der Einbau von Spionage-Hintertüren für Geheimdienste, Industriespione oder andere Kriminelle so gut wie unmöglich wird. „Das kann dann jeder reinschauen und überprüfen, ob da jemand zum Beispiel heimlich einen Hardware-Trojaner platzieren wollte.“

Vor allem die modernen 300-mm-Fabriken von TSMC sind stark ausgelastet. Foto: TSMC

Europa auf Schlüsselzulieferungen aus Taiwan, USA und Südkorea angewiesen

Vor allem aber hat das Projekt auch eine besondere strategische Bedeutung für die EU und das neue „Europäische Chipgesetz“, das Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) kürzlich vorgestellt hatte: Bestandsanalysen hatten nämlich immer wieder gezeigt, dass die Europäische Union nicht nur bei der Produktion von höchstintegrierten Schaltkreisen der Strukturklasse unter zehn Nanometern (Millionstel Millimetern) sowie in puncto Chipfabrik-Kapazitäten deutlich hinter Taiwan, Südkorea und den Vereinigten Staaten hinterherhinkt, sondern auch beim Schaltkreisentwurf. Die Forscher und Ingenieure von „Corenext“ wollen daher bis Ende 2025 auch eklatante Technologierückstände beim Prozessordesign in Europa verringern.

TU Dresden hat mit Branchengrößen einen Aufholplan entworfen

Im Vorfeld von „Corenext“ hatte die TU Dresden wichtige Akteure der europäischen Halbleiter- und Telekommunikations-Industrie (TK), die bis dahin meist separat jeder sein eigenes Chip-Süppchen gekocht hatten, an einem virtuellen Tisch zusammengetrommelt. In diesem mit einer knappen Million Euro durch die EU finanzierten Vernetzungsvorhaben „Corenect“ entwarfen das unter anderem das Barkhausen-Institut, Bosch, Nokia, Ericsson, Infineon, NXP, die Elektronik-Großforschungszentren Leti und Imac einen Plan – eine sogenannte „Roadmap“. Darin ist beschrieben, wie europäische Chip- und Telekommunikationsunternehmen künftig enger zusammenarbeiten und binnen einer Dekade wichtige Technologielücken schließen können.

Europa hat mit Nokia und Ericsson starke Netzwerkausrüster – doch bei schnellen Prozessorkernen sieht’s düster aus

In dieser Analyse wurde einerseits deutlich, dass Europa in diesen Schlüsselbranchen durchaus weltweit bedeutende Akteure vorzuweisen hat, die beispielsweise als Netzwerkausrüster sowie im Antennendesign, in der Sensorik und beim Entwurf analog-digitaler Hybridelektronik wichtige Kompetenzen besitzen. Auch gibt es in der Automobilelektronik ein paar führende Unternehmen wie Bosch oder NXP, die eigene Spezialprozessoren entwerfen und bauen können. Beim Entwurf und Bau besonders hochintegrierter und schneller Prozessoren für Rechnerwolken („Clouds“), Künstliche Intelligenzen und eben auch Telekommunikations-Ausrüstungen hat Europa jedoch weitgehend den Anschluss verloren. Der letzte bedeutsame Prozessorarchitekt in Europa war die „ARM“ Ltd. Doch die hat ihrer Heimat außerhalb des EU-Raums in Großbritannien und wurde zudem 2016 vom japanischen „Softbank“-Konzern gekauft.

Freier Handel und Globalisierung in Frage gestellt – Autarkiewünsche gewinnen wieder an Boden

All diese Verflechtungen erschien in einer globalisierten Welt des Freihandels lange Zeit kaum als Problem. Doch wiedererwachter Protektionismus, Donald Trumps Handelskriege gegen China, die schweren Lieferkettenstörungen im Zuge von Corona und des russischen Ukrainine-Krieges, die zuletzt stark gehäuften Unfälle in global wichtigen Elektronikfabriken, der zeitweise verstopfte Suez-Kanal und zuletzt die chinesischen Drohgebärden gegen die Mikroelektronik-Supermacht Taiwan haben dazu geführt, dass Europa seit geraumer Zeit seine internationalen Lieferabhängigkeiten abzubauen versucht.

Vertrauenswürdige Elektronik und offene Netzwerk-Architekturen auf der Agenda

Wohl auch von daher fielen die Analysen und Vorschläge des „Corenect“-Konsortium in Brüssel auf fruchtbaren Boden. Die Studie habe die Verantwortlichen dort regelrecht begeistert, berichtet Prof. Gerhard Fettweis, der seinerzeit in Dresden bereits das 5G Lab Germany aufgebaut und den Mobilfunk der fünften Generation mitentwickelt hatte und der inzwischen auch das außeruniversitäre Barkhausen-Institut in Dresden leitet. Daraufhin schrieb die EU das Corenext-Projekt aus, um einen ersten konkreten Schritt auf der nun vorgelegten „Roadmap“ zu gehen. Den Zuschlag bekam wieder der von Dresden geführte Verbund, der nun konkrete Arbeitspakete für die kommenden drei Jahre entwirft und verteilt. Zu den zentralen Zielen gehören unter anderem eigene Prozessordesign-Kapazitäten in Europa, besonders vertrauenswürdige Hard- und Software für die Telekommunikation, neue Antennen-Designs und spezielle Betriebssysteme für die neue Funkelektronik. Die Forscher  arbeiten aber auch an dezentralen und quelloffenen Netzwerk-Architekturen (Open RAN), die nicht mehr an die Spezialgeräte weniger Hersteller gebunden sind, sondern viele Aufgaben auf Standardtechnik in Cloud-Rechenzentren abwickeln.

EU hat 13 Millionen Euro zugesagt

All dies klingt nach einer Mammutaufgabe, die mit einem Budget von nur 13 Millionen Euro schwerlich zu lösen ist. Doch zum Einen hoffen Roitzsch und Hentschel, dass Industrie und Fördermittelgeber weiteres Geld in den Corenext-Topf legen, wenn die ersten Erfolge greifbar werden.

Prozessoren werden auf RISC-V-Architektur und Betriebssysteme auf TUD-Kernen basieren

Zum Anderen wollen sie sich nicht damit abstrampeln, erst mal das Rad neu zu erfinden: „Wir konstruieren keine vollständigen Prozessoren vom ersten Strich an, sondern konzentrieren uns erst einmal auf Teilkomponenten wie Beschleuniger und Sicherheitskomponenten“, erklärt der Projektleiter in spe. Basieren werde der neue sächsische Funk-Multiprozessor auf der etablierten RISC-V-Chiparchitektur. Auch die Spezial-Betriebssysteme, die die neuen Chips und Netzwerk-Architekturen dann steuern, muss das Team um Michael Roitzsch nicht von der ersten Code-Zeile an erfinden: „Wir entwickeln dafür Mikrokerne weiter, die bei Entwicklungsprojekten der TU Dresden bereits entwickelt worden sind“, verrät er.

Hoffnung auf neue Jobs und Wertschöpfung

Und natürlich rechnen die Initiatoren auch damit, dass ihr „Corenext“ für neue Jobs und Wertschöpfung sorgt – für Europa, aber auch für Sachsen im Speziellen. Denn spezialgeräte-unabhängige Funknetze, neue Prozessor-Designschmieden und andere Teilvorhaben können und sollen für Firmen-Ausgründungen im Projektverlauf sorgen. Zudem bieten sie gerade kleineren Technologiebetrieben wahrscheinlich bessere Chancen, im großen Markt für professionelle Telekommunikationstechnik mitzumischen.

Autor: Heiko Weckbrodt

Quellen: Barkhausen-Institut, Interviews Roitzsch, Hentschel, Fettweis, Oiger-Archiv, EU / Corenect

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt