Uhrenmanufaktur-Chef: „Enteignung hat uns zu dem geführt, was wir heute tun“
Glashütte, 14. Februar 2022. Die letzte große DDR-Verstaatlichungswelle 1972 hat die traditionsreiche Uhrenindustrie in Glashütte bis zur Wende im internationalen Wettbewerb deutlich zurückgeworfen, hatte punktuell aber auch positive Nebeneffekte: Mit dem Profil als Massenuhr-Produzenten waren die Glashütter nach dem Untergang der DDR nicht mehr wettbewerbsfähig. Allerdings hat die Zeit in den großen Kombinatsstrukturen auch für gut ausgebildetes Fachpersonal am Standort gesorgt – und manchmal auch zu Kontakten und Erfahrungen geführt, die sich auch nach 1989/90 nutzen ließen, wie das Beispiel der Mühle-Manufaktur zeigt.
Orientierung der Staatsbetriebe auf Massenware hatte nach der Währungsunion keine Chance mehr
In erster Linie war die Verstaatlichung nach dem Machtantritt von Erich Honecker (SED) auf jeden Fall eine Zäsur für die Uhrenindustrie im Müglitztal: Statt Luxusuhren, die sich weltweit zu hohen Preisen verkaufen lassen, wurden die ehemaligen Manufakturen in einem Kombinat zusammengefasst und größtenteils auf billige Massenproduktion umprofiliert. „Beim VEB Glashütter Uhrenbetriebe produzierten mehr als 2000 Mitarbeiter überwiegend billige Massenware, jährlich über eine Millionen Uhren. Dieses Geschäftsmodell hatte nach der Währungsunion 1990 keine Zukunft mehr“, schreiben die Historiker Dr. Rainer Karlsch vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und Dr. Michael Schäfer von der TU Dresden in der Studie „Industrielle Familienunternehmen in Ostdeutschland“, die sie für die „Stiftung Familienunternehmen“ erstellt hatten. Dies führte – wie in so vielen ostdeutschen Industriebetrieben – auch zu Massenentlassungen: Die Konkurrenten in Asien konnten solche Massenware viel billiger herstellen. Dagegen konnten die Ex-VEBs mit ihrem Produktportefeuille nach der Währungsunion nicht mehr bestehen.
Jobverlust seit der Wende weitgehend ausgeglichen
Der Neuanfang nach der Wende, die Rückbesinnung auf Kunsthandwerk und anspruchsvolle mechanische Zeitmesser verschafften der osterzgebirgischen Uhrenstadt allerdings schließlich doch wieder den Status als international führender Manufaktur-Standort. Heute beschäftigt die wieder größtenteils in Familienunternehmen und Manufakturen organisierte Glashütter Uhrenindustrie übrigens ähnlich viele Menschen wie die Massenproduktions-Betriebe zu DDR-Zeiten, nämlich rund 2000 Menschen.
Beispiel Mühle: Nach dem Krieg demontiert, wieder aufgebaut, 1972 verstaatlicht und 1994 neu gestartet
Als Beispiel für den ambivalenten Blick auf die Verstaatlichung zu Beginn der 1970er sei die Manufaktur „Mühle“ aus Glashütte genannt: 1869 gründete der Feinmechaniker Robert Mühle die Werkstatt „Robert Mühle Glashütte“, die zunächst besonders präzise Messinstrumente für die Glashütter Uhrenhersteller und die „Deutsche Uhrmacherschule“ fertigte. Später kamen auch Motorrad-Tachometer, Drehzahlmesser, Autouhren und nautische Instrumente hinzu.
1945 wurde der Betrieb enteignet, demontiert und die Reste unter dem Namen „VEB „Optik Messtechnik Glashütte“ den Zeiss-Werken Jena angegliedert. Dort arbeitete Hans Mühle – der Enkel des Gründers – zeitweise als Betriebsleiter, gründete aber im Dezember 1945 bereits wieder ein eigenes Unternehmen: die „Ing. Hans Mühle, Feinmechanik Glashütte“, die im selben Gebäude wie der VEB residiert. Unter Hans Mühle wuchs das neu begründete Unternehmen rasch auf 60 Mitarbeiter. „Seine Firma war alleiniger Hersteller von Zeigerwerken für Druck- und Temperaturmessgeräten in der DDR“, heißt es in der Studie.
Nach Hans Mühles Tod im Jahr 1970 übernahm Sohn Hans Jürgen die Leitung und erlebte zwei Jahre später die zweite Enteignung. Immerhin: Er durfte als Betriebsleiter weiter in seinem ehemaligen Familienunternehmen arbeiten. „Ich konnte mich nach dem erzwungenen Verkauf im nun ,VEB Feinmechanik Glashütte’ genannten Unternehmen bewerben und auch dort eine leitende Aufgabe übernehmen“, erinnert sich Hans Jürgen Mühle heute. „Bis zum Sonntag, 16. April 1972 war ich dabei ein in der DDR unerwünschter Kapitalist, nur einen Tag später, morgens ab 7 Uhr, ein Direktor der sozialistischen Arbeit im VEB Feinmechanik Glashütte.“ 1980 gliederten die DDR-Wirtschaftslenker diesen Betrieb dann allerdings in den „VEB Glashütter Uhrenbetriebe“ (GUB) ein. Dort war Hans Jürgen Mühle dann als Vertriebsleiter tätig.
Nach der Wende wurde er 1990 zu einem von fünf Geschäftsführern des privatisierten GUB-Nachfolgebetriebs Glashütter Uhrenbetriebe GmbH bestellt. 1994 gründete er dann aber die „Mühle-Glashütte GmbH nautische Instrumente und Feinmechanik“ und nahm damit die Tradition des Familienunternehmens wieder auf.
Über Nacht wurde der böse Kapitalist zum sozialistischen Leiter
„Welche Bedeutung die Verstaatlichung unseres Familienunternehmens im Jahr 1972 hatte, muss man differenziert betrachten“, betont Hans Jürgen Mühle heute. „Zum einen war es natürlich ein harter Schlag für die Familie, weil unser damaliges Unternehmen ,Ingenieur Hans Mühle’ als Privatbetrieb verschwand“. Rückblickend schätzt der Senior aber auch ein: „Darüber hinaus hat uns die Enteignung schließlich zu dem geführt, was wir heute tun. Wäre ich in den Jahren danach nicht in den Vertrieb der Glashütter Uhrenbetriebe geraten und dort mit dem Verkauf von Schiffs- und Armbanduhren betraut worden, hätte ich das Familienunternehmen nach der Wende wahrscheinlich nicht als Mühle-Glashütte GmbH nautische Instrumente und Feinmechanik neu gegründet. Dann würden wir heute wohl auch nicht unsere schönen Armbanduhren bauen.“
Er verweist auf den Leichtspruch im Familienwappen der Mühles von 1629. „Es bedeutet, dass wir bodenständige Realisten sind, die sich Herausforderungen mutig stellen und entschlossen handeln. In ähnlicher Form habe ich dieses auch zu meinem persönlichen Lebensmotto gemacht: Denn ich finde, man soll nicht dem nachtrauern, was man sowieso nicht mehr ändern kann und lieber nach vorne schauen. So kann man auch Rückschläge noch zum Guten wenden.“
Vom Marine-Chronometer zur Edel-Armbanduhr
Auf jeden Fall hat Mühle nach dem Neuanfang sein Profil gegenüber früher deutlich verändert: „1994 haben wir zunächst Marine-Chronometer und Schiffsuhren gefertigt und zwei Jahre später die ersten Mühle-Armbanduhren vorgestellt“, berichtet Sohn Thilo Mühle, der seit 2007 das Unternehmen leitet. Die Armbanduhren haben sich seitdem zum Hauptgeschäft entwickelt und machen heute den eigentlichen Erfolg von Mühle aus. „Sie ermöglichen uns – gepaart mit einer klugen Modellpolitik und einem nachhaltigen Wachstum in kleinen Schritten – uns mit unseren rund 70 Mitarbeitern auch zwischen den Global Playern als konzernunabhängiges Familienunternehmen zu behaupten. Das ist durchaus nicht selbstverständlich und macht uns als Unternehmer auch ein klein wenig stolz.“
Traditionslinie nie völlig unterbrochen
Das Selbstverständnis als Familienunternehmen spiele für Mühle bis heute eine große Rolle: „Seit 1869 arbeitet unsere Familie nun bereits in der Glashütter Uhrmacherei und Feinmechanik“, erklärt Thilo Mühle. „Die meisten Jahre davon als selbstständige Unternehmer, die rund 20 Jahre dazwischen als Betriebs- oder Abteilungsleiter. Insofern ist unsere Tradition des präzisen Messens durchgängig für uns erhalten geblieben“, betont der Geschäftsführer. „Was sich durch die geschichtlichen Umstände jedoch verändert hat, ist die Art der Messinstrumente, die wir in den vergangenen 153 Jahren gefertigt haben: Zunächst waren es hochpräzise Messgeräte für Uhrmacher, 1920 kamen Autouhren und Tachometer hinzu. In DDR-Zeiten fertigten wir dann Zeigerwerke für Druck- und Temperaturmessergeräte oder für die Foto- und Kinoindustrie, ab 1994 schließlich Marine-Chronometer und Armbanduhren. Dabei haben wir auf die jeweiligen wirtschaftlichen Umstände reagiert und gerne auch neue Chancen ergriffen. Unsere Tradition des präzisen Messens ist dabei der rote Faden, der alle unsere Messinstrumente verbindet.“
Autor: Heiko Weckbrodt
Quellen: Mühle, Studie „Industrielle Familienunternehmen in Ostdeutschland“, Oiger-Archiv
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