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Slub findet über 3000 Nazi-Raubgut-Bücher in ihren Regalen

Startseite der Internetausstellung "Mind the Gap" über Naziraubgüter und Herkunftsforschung in der Slub Dresden. Bildschirmfoto (hw) von "Mind the Gap", Slub/ DDB

Startseite der Internetausstellung „Mind the Gap“ über Naziraubgüter und Herkunftsforschung in der Slub Dresden. Bildschirmfoto (hw) von „Mind the Gap“, Slub/ DDB

Virtuelle Ausstellung „Mind the Gap“ zeigt Recherche-Beispiele

Dresden, 12. April 2021. Mindestens 3000 Bücher und andere Medien in der „Sächsischen Landes- und Uni-Bibliothek“ (Slub) sind vermutlich Raubgut aus der Zeit der nationalsozialistischen Terrorherrschaft, das direkt oder indirekt in die Dresdner Bibliotheks-Bestände gelangt ist. Diese Zwischenbilanz haben Slub-Forscherinnen zehn Jahre nach dem Beginn systematischer Herkunftsuntersuchungen in der Bibliothek gezogen. In einer virtuellen Präsentation skizziert das Team nun einige der teils verschlungenen Wege, die die geraubten Bände genommen haben. Offiziell eröffnen wollen sie ihre Ausstellung „Mind the Gap. Von geraubten Büchern, fairen Lösungen … und Lücken“ zum Tag der Provenienzforschung am 14. April 2021.

„Ich habe nie etwas Unrechtes getan, deshalb brauche ich die Gestapo nicht zu fürchten. Im Gegenteil: hinter all den Hakenkreuzen, die jetzt so verschwenderisch die Fenster zieren, dürfte es nur sehr wenige Menschen geben, die so freudig und viel für die deutsche Kultur getan haben, wie ich, die ich Jüdin bin.“

Aus einem Brief der jüdischen Schriftstellerin Ilse Weber an Lilian und James von Löwenadler (1939, eingesprochen von Ulrike Migdal

Das letzte gemeinsame Bild der Familie Weber von 1939. Aus der Sammlung von Hanus Weber (Familienbesitz). Bildschirmfoto (hw) von "Mind the Gap", Slub/ DDB

Das letzte gemeinsame Bild der Familie Weber von 1939 mit Ilse und Willi Weber und dazwischen die Söhne Hanuš und Tomáš. Aus der Sammlung von Hanus Weber (Familienbesitz). Bildschirmfoto (hw) von „Mind the Gap“, Slub/ DDB

Vertrieben, verschleppt, ermordet

Dazu gehört beispielsweise der Roman „Die Inseln der Weisheit: Geschichte einer abenteuerlichen Entdeckungsfahrt“ von Alexander Moszkowski von 1922 aus dem Slub-Bestand. „Wir haben darin das Bleistift-Autogramm ,Ilse Herlinger, 1927’ gefunden“, erzählt Kuratorin Elisabeth Geldmacher. Außerdem fand sich ein Stempel einer Dresdner Bibliothek des „Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes“ (FDGB) samt einer Inventarnummer.

Autogramm von Ilse Herlinger im Buch "Die Inseln der Weisheit". Bildschirmfoto (hw) von "Mind the Gap", Slub/ DDB

Autogramm von Ilse Herlinger im Buch „Die Inseln der Weisheit“. Bildschirmfoto (hw) von „Mind the Gap“, Slub/ DDB

Aus diesen wenigen Anhaltspunkten puzzelten sich die Forscherinnen zusammen, wem das Buch ursprünglich gehörte: Durch biografische Recherchen ermittelten sie, dass „Ilse Herlinger“ der Mädchenname der jüdischen Schriftstellerin Ilse Weber war, die vor dem Krieg mit ihrem Mann Willi Weber und ihren Kindern in Witkowitz bei Ostrau in der damaligen Tschechoslowakei lebte. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Böhmen und Mähren musste die Familie nach Prag umziehen, schließlich nur noch in ein einzelnes Zimmer. Dabei musste die Familie immer mehr von ihrem Besitz zurücklassen, vermutlich auch „Die Inseln der Weisheit“. 1942 deportierten die Nazis die Schriftstellerin zunächst ins KZ Theresienstadt und transportierten sie am 4. Oktober 1944 nach Auschwitz, wo sie zwei Tage ermordet wurde.

Buch an überlebenden Sohn übergeben

Durch Handschriftenvergleiche konnte die für die Slub-Recherchen eingeschaltete Weber-Biografin Ulrike Migdal das Bleistift-Autogramm im Roman dann auch der ermordeten Jüdin zuordnen. Auf welchem Weg genau das Buch in der Nachkriegszeit beim FDGB und später in der Slub landete, konnten die Forscherinnen zwar nicht mehr ermitteln. Aber das sei eben Teil ihrer Arbeit und auch namensgebend für die neue Ausstellung, betonet die andere Kuratorin der Exposition, Nadine Kulbe : „Mind the Gap“ steht in Londoner U-Bahnen als Warnung in den Bahnhöfen, um die Passagiere daran zu erinnern, dass da zwischen Bahn und Bahnsteig eine Lücke ist. Im Falle der „Die Inseln der Weisheit“ konnte die Slub das Buch aber zumindest 2020 an Hanus Weber zurückgeben – der Sohn von Ilse Weber hatte den Völkermord in Schweden versteckt überlebt.

Nadine Kulbe, Robinreschke und Elisabeth Geldmacher vom Provenienz-Projekt im Slub-Archiv. Foto: Anja Schneider für die Slub

Nadine Kulbe, Robinreschke und Elisabeth Geldmacher vom Provenienz-Projekt im Slub-Archiv. Foto: Anja Schneider für die Slub

61 Bücher restituiert, über 500 folgen demnächst

Nicht immer allerdings gelingt es, alle Lücken zu schließen und Erben oder Überlebende ausfindig zu machen: Nur einige identifizierte Raubgut-Bücher konnten die Bibliothekarinnen restituieren, teilte Abteilungsleiterin Jana Kocourek mit, die in der Slub unter anderem für die Provenienzforschung zuständig ist. Im Zuge des jüngsten Projekts gab die Bibliothek 61 Bücher zurück und bereits derzeit die Rückgabe von über 500 Bänden vor. Die Bücher gehörten ursprünglich teils jüdischen Vorbesitzern, teils Gewerkschaften, sozialdemokratischem oder kommunistischen Vereinigungen, aber auch Glaubensgemeinschaften wie den Jesuiten Hosterwitz.

Video über die Provenienzforschung
an der Slub Dresden (Quelle: Slub):

„Wir brauchen eine Verstetigung der Provenienzforschung“

Leider seien derartige Recherchen eben erst Jahrzehnte nach dem Krieg und dann auch nur in Einzelprojekten begonnen worden, so dass die wenigen Überlebenden von Holocaust und politischer Verfolgung inzwischen hochbetagt seien, erklärt die Provenienz-Expertin. Zwar starte an der Slub demnächst ein weiteres Herkunftsforschungsprojekt, gefördert vom „Deutschen Zentrum Kulturgutverluste“. „Aber was wir wirklich brauchen, ist eine Verstetigung der Provenienzforschung über Einzelprojekte hinaus“, sagt Jana Kocourek. „Wir haben noch wahnsinnig viele offene Fälle zu klären und haben zum Beispiel die Handschriften und Musikalien überhaupt noch nicht durchgesehen.“

Über die Ausstellung

Insgesamt umfasst die neue virtuelle Slub-Ausstellung rund digitale Kopien von rund 100 Exponaten: Bilder, Faksimiles, Audio-Dateien, Briefausschnitte, Exlibris-Repros und dergleichen mehr. Neben Medien der Slub gehören dazu Abbildungen von Objekten aus dem Bestand der Deutschen Fotothek, des National Archives in Washington, des jüdischen Museums in Prag und anderer Institutionen. Die Besucher finden auf den Internetseiten drei vertiefte Recherche-Fallbeispiele über die geraubten Bücher von Ilse Weber, vom Württembergischen Freidenker- und Monistenbund sowie aus der Arbeiterbibliothek Rathenow. Die Forscherinnen stellen dazu ihre Recherchewege vor, berichten über Irrtümer von Zeitzeugen und falsche Fährten, aber auch, wie sie die nicht schließbaren Lücken dokumentiert haben.

Kurzüberblick:

Autor des Berichts: Heiko Weckbrodt

Quelle: Slub-PG, Deutsche Digitale Bibliothek

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt