VW ernennt Ceti-Psychologen aus Dresden zum Freigeist – und finanziert Forschung zum virtuellen Körpergefühl
Dresden, 18. Februar 2021. Wie fühlt sich ein Hardcore-Spieler, der in einer „virtuellen Realität“ (VR) oder „augmentierten Realität“ (AR) einen ganzen Tag lang einen computergenerierten Krieger-Körper gesteuert hat – und dann in seine schnöde echte Welt zurückkehrt? Der plötzlich in einen Leib zurückschlüpft, der kaum fünf Liegestütze schafft und keineswegs mehr die Reflexe eines Elitesoldaten hat? Fühlt er diesen seinen angeborenen Körper irgendwann als fremde Hülle? Und diese Langzeit-Spaltung in reale und virtuelle Körper könnte in Zukunft nicht allein Computerspieler treffen, sondern auch Chirurgen, die über Stunden hinweg OP-Roboter dirigieren, Astronauten oder Polizisten, die Bomben mit ferngesteuerten Robotern entschärfen. Den daraus entstehenden Fragen und Risiken will nun der Psychologe Dr. Jakub Limanowski an der TU Dresden nachgehen: Im „Exzellenz-Centrum für taktiles Internet mit Menschen in der Schleife“ (Ceti) hat er das sechsjährige Forschungsprojekt „Re-Learning Body Models in the Human Brain“ gestartet, das die Volkswagen-Stiftung mit 1,2 Millionen Euro aus einem Freigeist-Stipendium finanziert.
Lernprozess wie bei Babys: Das ist meine Hand!
Jakub Limanowski vermutet, dass Menschen, die sehr lange Zeit einen Roboter oder Avatar steuern, mit diesem alternativen Körper einen ähnlichen Lernprozess durchmachen wie ein Baby: „Neugeborene stellen zunächst keinen Zusammenhang her, zwischen dem, was ihre Augen sehen und was ihre Hände tun“, heißt es in einer Mitteilung der Dresdner Uni. Erst nach und nach entwickele sich daraus ein individuelles „Körpermodell“, dass es dem Baby erlaube, diese Hände als die „eigenen“ zu erkennen, und beispielsweise gezielt nach Gegenständen zu greifen.
Gefährliche Nachwirkungen nicht ausgeschlossen
Wenn Limanowskis Hypothese zutrifft und Menschen ein ähnliches Körpergefühl für Roboter, Avatare und andere künstliche Körper erlernen, stellt sich die Frage nach den Langzeitfolgen. Verändert sich womöglich das neuronales Körpermodell von Menschen mittel- bis langfristig, wenn sie für Mensch-Maschine-Interaktionen ständig Digitalbrillen und andere VR- und AR-Schnittstellen verwenden? „Derzeit kann man dazu noch nicht viel sagen, also auch nicht, ob das gefährliche Nachwirkungen hat“, betont der Psychologe.
Körpergefühl in mathematisches Modell übersetzen
Er möchte nun mit seinem Freigeist-Team ein mathematisches Modell des menschlichen Körpergefühls entwickeln, das Wahrnehmung, Entscheidungsfindung, Handlung und Lerneffekte im Gehirn umfasst. Dafür wollen die Freigeister innovative Virtual-Reality-Experimente mit Messungen und direkter Manipulation von Gehirnaktivität kombinieren. Dabei ist beispielsweise zu klären, wie die Probanten einen „eigenen“ virtuellen Körper identifizieren, wie sie reagieren, wenn virtuelle und physische Sinneseindrücke auseinanderdriften und was passiert, wenn sie häufig zwischen physischen und virtuellen Körpern hin- und herwechseln.
Jakub Limanowski: „Indem wir aufdecken, wie Menschen ihre Körpermodelle aktiv transformieren, wird dieses Projekt helfen, einige der neuartigen Herausforderungen zu bewältigen, denen wir als (neu-) verkörperte Selbste in Mensch-Maschine-Interaktionen heute gegenüberstehen.“
Der Mensch in der digitalen Schleife
Derartige interdisziplinäre Forschungen an der Schnittstelle von neuen Hochtechnologien, Psychologie, Neurologie, Arbeitswissenschaften und Geisteswissenschaften sind ein Schwerpunkt des Dresdner Ceti. Die Forscherinnen und Forscher im Exzellenz-Centrum arbeiten unter anderem an revolutionären neuen Ansätzen des Lernens. Sie möchten beispielsweise die Talente von Klaviervirtuosen, erstklassischen Chirurgen, Feinmechanikern und anderen Meistern ihre Fachs für die Ewigkeit bewahren. Dafür sollen die menschlichen Meister ihre besonderen Finessen mit Hilfe von Avataren zunächst in Rechnerwolken abspeichern. Und diese Talente könnten dann unendlich oft kopiert werden, indem Roboterlehrer die Körper der Schüler so führen, wie es der Meister getan hätte.
Autor: Heiko Weckbrodt
Quellen: TUD, Jakub Limanowski, Science Direct, VW-Stiftung, Oiger-Archiv
Zum Weiterlesen:
„Virtuosität für die Massen“ Was macht das Ceti Dresden?
Freigeist forscht in Dresden an selbstwachsenden Lichtchips
Ihre Unterstützung für Oiger.de!
Ohne hinreichende Finanzierung ist unabhängiger Journalismus nach professionellen Maßstäben nicht dauerhaft möglich. Bitte unterstützen Sie daher unsere Arbeit! Wenn Sie helfen wollen, Oiger.de aufrecht zu erhalten, senden Sie Ihren Beitrag mit dem Betreff „freiwilliges Honorar“ via Paypal an:
Vielen Dank!
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.