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Stadtumbau-Schau in Dresden: Planet auf der Intensivstation

Architektin Anapuma Kundoo setzte 2010 für das "Volontariat Home" für obdachlose Kinder in Pondicherry alte persische Lehmbautechniken ein. Dabei wird das Gebäude selbst zum Brennofen und zum Materialproduzenten. Foto: Andres Herzog

Architektin Anapuma Kundoo setzte 2010 für das „Volontariat Home“ für obdachlose Kinder in Pondicherry alte persische Lehmbautechniken ein. Dabei wird das Gebäude selbst zum Brennofen und zum Materialproduzenten. Foto: Andres Herzog

Technikmuseum zeigt 21 Lösungen für das 21. Jahrhundert

Dresden, 3. Juni 2020. Was können ein paar Inder schon machen, wenn sie sich um obdachlose Kinder kümmern wollen, aber nicht das Geld haben, um ein Kinderheim zu bauen? Oder brasilianische Betonwüstenbewohner, die sich für ihr Viertel ein Kulturzentrum für alle wünschen, aber kein Investor den vergammelten Einkaufstempel vor ihrer Nase anpacken will? Selbst für scheinbar aussichtslose Wünsche finden sich oft genug doch Lösungen, wenn Architekten, Ingenieure, Spender und Anwohner den kreativen Ideen auch Taten folgen lassen. Davon ist Direktorin Angelika Fitz vom Architekturzentrum Wien schon lange überzeugt. Drei Jahre lange haben sie und ihrer Mitstreiter auf allen Kontinenten nach Antworten auf die Herausforderungen gesucht, vor denen Mensch und Planet im 21. Jahrhundert stehen. 21 Beispiele haben die Österreicher gefunden und zeigen sie ab dem 9. Juni 2020 in der Wanderausstellung „Critical Care – Architektur für einen Planeten in der Krise“ in den „Technischen Sammlungen Dresden“ (TSD).

Kurzfilm vom
Architekturzentrum
Wien über
"Crital Care:

Organisatorin: Kapitalismus hat Erde in Sachgasse manövriert

„Unser Planet ist ausgelaugt und vermüllt“, ist Angelika Fitz überzeugt. „Industrie und Kapitalismus haben ihn zu einem Punkt gebracht, an dem es kein ,Weiter so’ mehr gibt.“ Die Erde habe eine bessere Pflege („Care“) bitter nötig. Aus ihrer Sicht ist das so dringend, dass der Planet sogar auf die Intensivstation („Critical Care“) gehört – daher der Titel der Ausstellung.

Ganz ohne Kräne, Betonmischer und Arbeiterheere ist die Kindersiedlung "Volontariat Home" in Indien entstanden: Lehmziegel werden gestapelt, mit Lehmmörtel verputzt und dann durch ein Feuer im Innern der Baustelle gehärtet. Foto: Andres Herzog

Ganz ohne Kräne, Betonmischer und Arbeiterheere ist die Kindersiedlung „Volontariat Home“ in Indien entstanden: Lehmziegel werden gestapelt, mit Lehmmörtel verputzt und dann durch ein Feuer im Innern der Baustelle gehärtet. Foto: Andres Herzog

Inder härten Kinderhäuser aus Lehm

In Bild, Video und Text stellen die Kuratoren da unter anderem das bereits erwähnte Beispiel aus Indien vor: In Pondicherry haben Anwohner mit einer aufgemotzten traditionellen Lehmbauweise 16 Häuser für obdachlose Kinder und ihre Pflegeeltern selbst errichtet – ganz ohne Profi-Bauarbeiter, Zement oder schwere Technik. Sie formten Lehmziegel, schichteten sie zu iglu-ähnlichen Rundhäusern, dichteten sie mit Lehmmörtel ab und verwandelten sie dann in übergroße Öfen: Drei Tage brannte das heiße Feuer im Innern der Häuser, härtete die Wände und nebenbei noch andere Ziegel und Töpferwaren. Auch verwerteten sie dabei städtischen Müll: Fahrradfelgen wurden zu Fenstern, alte Glasflaschen zu Lichtschächten.

Paulo Mendes da Rocha und "MMBB Architekt*innen" haben das Parkhaus eines Kaufhausgebäude in São Paulo in ein soziales Kultur-, Sport- und Gesundheitszentrum umgebaut, mit Swimmingpool auf dem Dach. Foto: Ana Mello

Paulo Mendes da Rocha und „MMBB Architekt*innen“ haben das Parkhaus eines Kaufhausgebäude in São Paulo in ein soziales Kultur-, Sport- und Gesundheitszentrum umgebaut, mit Swimmingpool auf dem Dach. Foto: Ana Mello

Parkhaus wird Kulturzentrum mit urbanen Badefreuden

Ein urbane Wiederverwertung von ganz anderem Kaliber entdeckten die Österreicher in Brasilien: Dort verwandelte der „Sozialdienst des Handels“ ein heruntergekommenes Parkhaus in ein Kultur- und Sozialzentrum mit Schwimmbad auf dem Dach für ein Viertel voller Häuserschluchten in Sao Paulo. Andere Beispiele faszinierten die Ausstellungsmacher gleich vor der Haustür: Die Wiederbelebung des stillgelegten Nordbahnhofs von Wien etwa. Oder die Verwandlung eines Plattenbau-Siedelung in Bordeaux in neuen Lebensraum: Die Architekten ließen die Plattenfassaden abtragen und leichte Wintergärten davor setzen, die mit geringem Kapitalaufwand die Wohnfläche deutlich vergrößerten und die Uniformität der Fassaden aufbrachen. „Vorher habe ich in einem Hasenstall gewohnt“, soll ein Mieter gesagt haben. „Jetzt lebe ich wie in einer Villa.“

Ideen auch für Dresden

Einige dieser Ansätze könnten auch Ideen für Dresden liefern, wenn man etwa an den alten Leipziger Bahnhof oder manch Plattenbau in Prohlis oder Gorbitz denkt. Daher wollte Direktor Roland Schwarz diese Ausstellung auch so gern in Sachsen zeigen: „Viele dieser Fragen stehen auch hier: Bauen mit knapperen Ressourcen, kommerzfreie Räume in dicht besiedelten Stadtvierteln oder wie wir die Gebäude des sozialen Wohnungsbaus der 1970er und 80er Jahre aufwerten können“, sagte er.

Leichtgewichtige Wanderschau

Zu sehen ist die Exposition zum 13. September 2020 im Goldbergsaal der Technischen Sammlungen an der Junghansstraße. Um Transportkosten zu sparen und die Umwelt zu schonen, ist sie aus leichten Wellpappe-Schautafeln mit Bildern und Texten gemacht, die wie Wäsche auf eine Leine gespannt sind. An vielen der 21 „Pflegestationen“ sind Videos zu sehen, die der Besucher nicht ignorieren sollte: Denn einige Texttafeln wimmelt derart von Worthülsen, Anglizismen und schwammigen Visionen, dass durch bloßes Lesen kaum zu verstehen ist, wovon da die Rede ist. Abgesehen davon ist „Critical“ eine gleichermaßen minimalistische wie inspirierende Ausstellung, die zeigt: Wo ein Wille ist, findet sich – manchmal eben auch ohne viel Geld – auch ein Weg.

Das "Cool Silicon"-Wissenschaftszentrum zieht 2013 in die ehemaligen Ernemann-Werke ein, die heute die Technischen Sammlungen Dresden beherbergen. Abb.: hw

Die Technischen Sammlungen in Dresden-Striesen. Foto.: hw

Kurzüberblick:

  • Titel: „Critical Care – Architektur für einen Planeten in der Krise“
  • Organisatoren: Architekturzentrum Wien und Zentrum für Baukultur Sachsen
  • Ort: Technische Sammlungen Dresden, Junghansstraße 1
  • Öffnungszeiten: 9. Juni bis 13. September 2020, jeweils Dienstag bis Freitag 9 bis 17 Uhr, Samstag und Sonntag 10 bis 18 Uhr
  • Eintrittspreise: Fünf Euro, ermäßigt vier Euro (solange Corona wütet, kostet der Eintritt nur halb so viel)
  • Mehr Infos: tsd.de

Autor des Berichts: Heiko Weckbrodt

Quelle: Vor-Ort-Termin in TSD

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt