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„Geschichte Karthagos soll nicht verschwinden wie ihre Mauern“

Auf diesem Gemälde hat sich Joseph Mallord William Turner 1802 ausgemalt, wie der karthagische Feldherr Hannibal bei einem Schneesturm die Alpen überquert haben mag. Repro: The Yorck Project / Direct Media in der Wikipedia, Lizenz: gemeinfrei

Auf diesem Gemälde hat sich Joseph Mallord William Turner 1802 ausgemalt, wie der karthagische Feldherr Hannibal bei einem Schneesturm die Alpen überquert haben mag. Repro: The Yorck Project / Direct Media in der Wikipedia, Lizenz: gemeinfrei

Das Taschenbuch „Hannibal Minor. Die Geschichte Karthagos“ ist eine Abkehr von römischer Siegergeschichtsschreibung

Ein Sensationsfund erschüttert die Welt der Geschichtsschreiber: Eine dänische Reederei entdeckt in der Seekiste des Kapitäns Stig Bastrup ein Bündel uralter Papyrusrollen. Den Text hatte augenscheinlich vor zwei Jahrtausenden ein antiker Exil-Karthager verfasst, der „kleine Hannibal“. Schlagartig verfügen die Historiker nun über eine erste originale Quelle, die das Leben in der antiken Händlerstadt in Nordafrika nicht mehr nur aus der Siegerperspektive der Römer, sondern aus dem Blickwinkel eines echten Karthagers ausbreitet. Der Berliner Historiker Olde Hansen, bekannt durch sein Sachbuch „Der Dritte Römisch-Karthagische Krieg: Die Zerstörung Karthagos 146 v. Chr.“ aus dem Jahr 2008, hat dieses faszinierende Opus nun unter dem Titel „Hannibal Minor. Die Geschichte Karthagos“ veröffentlicht und kommentiert.

Propaganda machte aus Karthagern heimtückische Kinderschächter

Auch wenn es sich bei den angeblichen Papyri des „kleinen Hannibals“ nur um eine Fiktion handelt: Das Konzept funktioniert. Olde Hansen nutzt diese Konstruktion nämlich, um eine – bisher nie aufgeschriebene – Binnenperspektive auf Karthago aus dem aktuellen Forschungsstand zu extrahieren.

Zensor Marcus Porcius Cato, der Ältere: "Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss." Abb.: Wikipedia

Kriegerstreiber Marcus Porcius Cato, der Ältere: Der zensor pflegte nach jeder Rede zu sagen: „Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss.“ Abb.: Wikipedia

Dieser Perspektivwechsel steht längst aus, umwabern doch bis zum heutigen Tage allerlei Mythen das antike Karthago. Die Bewohner hätten ihren semitischen Göttern Kinder opfern, wird immer wieder geflüstert, und heimtückisch seien die „Punier“ ohnehin gewesen, das habe nun mal in ihrem Naturell gelegen. Man denke nur an Hannibal, der unverschämterweise hinterrücks mit Elefanten über die Alpen zog und plötzlich bei den Römern „ante portas“ stand!

Mit „gerechten Kriegen“ zum Weltreich?

Hinter all diesen Storys steckt vor allem eines: Geschichte, die von Siegern geschrieben wurde. Drei Kriege führten die Römer gegen Karthago, das sie schließlich völlig ausmerzten – und damit als Dominanz-Großmacht des westlichen Mittelmeer beerbten. Und da die Römer stets darauf bedacht waren, nur „gerechte Kriege“ zu führen, bogen sie sich das eben auch propagandistisch im Falle Karthagos so zurecht. Festhalten sollte man aber vielleicht eines: Dort, wo bis zum ersten „punischen Krieg“ (264-241. v. u. Z.) Karthago noch sein kommerzielles Imperium spannte, herrschten reichlich 100 Jahre später die Römer. „Defensiven Imperialismus“ nannte später der deutsche Historiker Theodor Mommsen diese abstrusen Dominoketten hin zu einem Weltreich.

Geschichte aus der Sicht eines „nachgeborenen“ Karthagers

Der kleine Hannibal jedenfalls, den Hansen in seinem neuen Buch sprechen lässt, ist ein Nachgeborener der Zerstörung, die der römische Feldherr Publius Cornelius Scipio Aemilianus im Jahr 146 v. u. Z. über die Händlermetropole im heutigen Tunesien brachte:

Hannibal Minor:

„Dies ist die Geschichte Karthagos von Hannibal dem Kleinen, Sohn des Adherbal von Porto Magonis1. Ich schreibe diese Worte im vierzigsten Jahr nach der Zerstörung der Stadt. Die Geschichte Karthagos soll nicht verschwinden wie ihre Bewohner, Schiffe, Mauern, Manufakturen und Lagerhäuser.“

1000er Puzzle, von dem die Hälfte der Teile fehlt

Nach diesen Auftaktworten schlägt Hansen alias Hannibal einen weiten Bogen von der Gründung der Stadt durch das phönizische Tyros (heute im Libanon) bis zum Exodus der letzten Karthager aus ihrer zerstörten Stadt. Dabei versucht der Autor Detail auf Detail ein „Puzzle aus mehreren Tausend Teilen zusammenzusetzen, von denen unglücklicherweise mehr als die Hälfte seiner Bestandteile verloren gegangen sind“, wie er selbst in seinem Nachwort schreibt. So entwirft er das Bild einer stolzen, manchmal auch verblendeten Handelsgroßmacht, deren vielbeneideter Reichtum wahrscheinlich auch ein Quell ihres Untergangs war – neben rassistisch anmutenden Vorurteile der Römer gegen die semitischen Nachbarn, wie der Autor andeutet.

Fazit: Detailreicher Perspektivwechsel

Beeindruckend sind die Tiefe und Breite des zusammengetragenen Wissens über Karthago, die Hansen alias Hannibal in seinem selbstverlegten Büchlein ausbreitet. Gelegentlich blitzen darin auch schelmische Episoden auf, beispielsweise die wilde Bermudadreieck-Fabel um den „Orden des Dagon“. Solche Intermezzi mögen letzte Überbleibsel eines früheren, comic-artig gedachten Buchkonzepts sein. Dieser unterhaltsame Aspekt tritt leider etwas hinter der Fülle an Details und Anmerkungen zurück, die der Autor eingebaut hat. Davon abgesehen sei dieses Buch jedem ans Herz gelegt, der tiefer in die Geschichte Karthagos und des Aufstiegs Roms vom Hinterwäldlerdorf zur Großmacht – und später zur antiken Supermacht – eindringen will. Zwar ist schon viel über Karthago erzählt, gesungen und geschrieben worden. Aber diese fiktiven „Originalquelle“ ermöglicht einen Perspektivwechsel, eine Abkehr von römischer Siegergeschichtsschreibung.

Exkurs in die Rezeptionsgeschichte

Zudem reflektiert Olde Hansen in seinem Nachwort auch die bemerkenswerte Rezeptionsgeschichte von Karthago. Denn immer wieder bewegte diese ausgemerzte Stadt die Phantasien der Nachwelt: als Inbegriff blinden römischen Zerstörungswillens, als Beispiel früher Propagandaschlachten bis hin zum Brettspiel.

Olde Hansen. Foto. privat

Olde Hansen. Foto: privat

Kurzinfo:

  • Titel: „Hannibal Minor. Die Geschichte Karthagos“
  • Autor: Olde Hansen
  • Genre: Sachbuch Geschichte mit fiktiven Einlagen
  • Format: Taschenbuch im Eigenverlag
  • Preis: 8,90 Euro
  • Umfang: 108 Seiten
  • ISBN: 978-3746735191

Autor der Rezension: Heiko Weckbrodt

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Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt