Wegen alter Demütigungen und sinkender Ölpreise spielt Putin immer öfter die Großmacht-Karte, meinen Experten in Dresden
Dresden, 1. März 2017. Hat das US-amerikanische Erdgas-Fracking-Programm letztlich auf der anderen Seite des Erdballs die Annexion der Krim ausgelöst? Das klingt weit hergeholt, ist aber vielleicht gar nicht so abwegig. Jedenfalls wenn man der Argumentation in der Diskussionsrunde „Putins Russland – Inszenierung einer Weltmacht?“ folgt, mit der die Volkshochschule Dresden am Dienstagabend ihr Sommersemester 2017 in der ehemaligen Stasi-Zentrale an der Bautzner Straße eröffnet hat – nicht weit von dem Ort also, an dem der heutige russische Präsident Wladimir Putin jahrelang als KGB-Offizier stationiert war.
Wirtschaftskrise setzte Präsidenten unter Druck
Demnach hat der Verfall des Ölpreises in den vergangenen Jahren hauptsächlich die aktuelle Wirtschaftskrise in Russland ausgelöst. Dies habe wiederum Putin unter Druck gesetzt, der daraufhin eine immer offensivere Großmachtpolitik betreibe, um von der ökonomischen Misere im Lande abzulenken, betonte Dresdner Politologe Markus Soldner. „Weil sich für viele Russen der Lebensstandard wieder verschlechtert hat, spielt Putin nun die Nationalismus-Karte.“ Und was – so mag man rhetorisch fragen – hat den Ölpreis in der jüngsten Dekade vor allem unter Druck gesetzt? Das Fracking in den USA, womit sich der Zirkel schließt.
Obamas „Mittelmacht“-Äußerung demütigte Russen zutiefst
Freilich sollte man daraus keine Verschwörungstheorien ableiten, denn Weltpolitik konstruiert sich so gut wie nie eindimensional. Der neue Kurs Moskaus hat eben auch viel mit alten Wunden zu tun. Die schlimmste Demütigung für die Russen sei sicher die Äußerung von US-Präsident Barack Obama im Jahr 2014 gewesen, Russland sei inzwischen allenfalls noch eine „Mittelmacht“, meinte der frühere Dresdner Oberbürgermeister Herbert Wagner (CDU), der heute den Trägerverein „Gedenkstätte Bautzner Straße Dresden“ leitet. „Das musste die Russen zutiefst demütigen und verärgern.“
Drohende Mitgliedschaft Georgiens in der NATO leitete Kurswechsel in Moskau ein
Jedenfalls ist kaum übersehbar, dass Putin seit etwa zehn Jahren eine offensivere Außenpolitik fährt: Als Fanal gilt der Georgien-Krieg 2008, in den Russland zugunsten der südossetischen Separatisten-Milizen eingriff – vor allem, weil Georgien der NATO beizutreten drohte, wie der Historiker und Soziologe Prof. Manfred Wilke unterstrich. Diese Vorstellung sei von Russland als Übergriff der Amerikaner in den eigenen Vorhof und als unmittelbare Bedrohung empfunden worden. Dass Putin 2014 die Krim nach Russland „wiedereingemeindet“ hat, dass die russischen Kampfflugzeuge im Herbst 2015 in den syrischen Bürgerkrieg eingriffen, all dies ordne sich in diese Versuche Putins ein, „die Macht Russlands in der Welt zu rekonstruieren“, so Wilke.
Autokratische Traditionslinie von Iwan dem Schrecklichen über Stalin bis zu Putin
Und dieser Kurs hat eben nicht allein mit dem Ölpreisverfall in den Jahren 2011 bis 2016 zu tun, sondern auch mit jahrhundertealten machtpolitischen Traditionen in Russland und den Demütigungen, die das Land nach dem Zerfall der Sowjetunion erlebte, argumentiert Wilke. Innenpolitisch setze da Putin – nur eben in modernerem Gewand – eine Tradition autokratischer Herrschaft fort, die von Iwan dem Schrecklichen über Stalin bis in die neueste Zeit reiche.
Selbstinszenierung als vitaler Jäger und Macher
Dass Putin so außerordentlich fest im Sattel sitze, hängt laut Soldner einerseits mit der Verfassung zusammen, die dem russischen Präsidenten mit seinen weitgehenden Dekret- und Veto-Rechten mehr Macht gebe als selbst dem amerikanischen. Andererseits sei vielen Russen nach den beschämenden Krisenjahren der Jelzin-Ära dieser Putin, der sich gern vital und alkoholabstinent mit freiem Oberkörper präsentierte, der Kampfjets steuerte und Tiger jagte, der Oligarchen zur Strecke brachte, wie ein Heilsbringer erschienen. Und tatsächlich: Unter dem ehemaligen Geheimdienst-Offizier und neuen Dauer-Präsidenten florierte die Wirtschaft, der Lebensstandard stieg wieder – zumindest in den großen Städten wie Moskau und St. Petersburg. „Dabei hatte das vor allem mit den steigenden Ölpreisen zu tun“, analysierte Markus Soldner. In diesen „fetten“ Öldollar-Jahren habe es Russland aber zu wenig in andere Wirtschaftssektoren investiert. Und das rächte sich, als der Ölpreis verfiel.
Geschickter Jongleur
Immer wieder aber sei es dem Präsidenten vor der russischen Öffentlichkeit gelungen, andere Sündenböcke zu finden, so dass keiner ihn für die Misere verantwortlich machte. „Putin balanciert immer wieder sehr geschickt die Einflüsse und Macht seiner Unterstützer aus“, meint Soldner.
Prof. Wilke: Wende in Dresden prägte Putin nachhaltig
Andererseits habe gerade die Wende in der DDR, die er als KGB-Offizier in Dresden erlebte, Putin vor Augen geführt, wie schnell Kartenhäuser zusammenbrechen können, wenn man nicht achtgibt. Zuzusehen, wie das bisher so sicher beherrscht geglaubte Volk plötzlich aktiv wurde, sei sicher prägend für Putins weitere Biografie gewesen, ist Prof. Wilke überzeugt. „Für die Psyche von Putin dürfte die Erfahrung in Dresden von 1989 von ausschlaggebender Bedeutung gewesen sein.“
Autor: Heiko Weckbrodt
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