Berlin/Stuttgart, 2.10.2011: Fotografien umgeben uns tagtäglich: Freunde stellen ihre Handy-Schnappschüsse bei Facebook ein, wir schlagen die Zeitung auf und sehen eine im Lichtbild fixierte Revolution auf der anderen Seite des Erdballs. Seltener bekommen wir Fotos mit hohem künstlerischen Anspruch zu Gesicht, denn die verstecken sich meist in kleinen Gallerien. Das Berliner Portal „Photography Now“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, auf eben solche Expositionen aufmerksam zu machen.
Ein kleines Nilpferd beißt dem Vati in den Arsch. Eine Gestapo-Zuträgerin wird in der Menge enttarnt. Eine halbnackte Frau vergräbt ihren Kopf in die Schublade. Ein grüner Milchpudding entpuppt sich als Spalte zwischen den Saturnringen – die Bilder, mit denen uns „Photography Now“ lockt, haben eines gemeinsam: Die Frauen und Männer hinter der Kamera verstehen das Medium nicht als bloße Transportmöglichkeit für ein Abbild der Realität, sondern als Kunstform. Manches mögen auch Schnappschüsse sein, die aber Realität durch Glück und Geschick des Fotografen ähnlich stark verdichten wie ein Kunstfoto, indem sie einen Moment einfrieren, der ein Ereignis stärker konzentriert als die täuschbereite Erinnerung selbst der Menschen, die dabei waren.
Den meisten der Fotos sieht man indes an, dass sie sorgfältig arrangiert wurden und zweifellos viel Zeit beanspruchten: Der Arbeiter, der da auf einem Stahlträger über der Grubenbahn hinüberblickt, mag aussehen, als ob er spontan auf das Auslösegeräusch der Kamera reagiert hat. Die sorgfältige Ausleuchtung der Szenarie freilich deutet auf eine lange Vorbereitung hin. In diesen „Pseudo-Schnappschüssen“ muss der Betrachter dem Fotografen schlicht vertrauen, dass das Arrangement nicht allein das subjektive Wollen des Machers, sondern – soweit das überhaupt möglich ist – einen Wesenskern demonstriert.
Ein anderes Bild zeigt die Rücken zweier Schutzpolizisten, die auf eine schier ewige Trümmerwüste schauen – aufgenommen 1945 im zerstörten Deutschland. Da war es wohl eher der geschulte Blick des Fotografen, der das Groteske der Situation sofort erkannt hat: Die geschniegelte Ordnungsmacht, die eigentlich gar nichts zum Ordnen hat inmitten scheinbar endgültiger Entropie.
Kaum ein Foto, mit dem „Photography Now“ auf aktuelle Ausstellungen neugierig zu machen versucht, lässt den Betrachter kalt, bei mir zumindest stellte sich oft genug der legendäre „Boah“-Effekt ein und der Wunsch: So gut würd ich auch gern meine Knipse beherrschen. Sicher, das 1998 in Stuttgart gegründete und seit 2000 in Berlin angesiedelte Portal ist keine karitative Einrichtung. Die Galeristen und Fotografen, die sich dort präsentieren wollen, müssen dafür ordentlich Kohle hinlegen, wie Herausgeberin Claudia Stein in ihrer Präsentation einräumt. Dennoch: Für den fotografisch Interessierten die Seite ist immer einen Blick wert. Heiko Weckbrodt
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