In ihrem jüngsten Buch analysiert die kanadisch-britische Historikerin Margaret MacMillan „Wie Konflikte die Menschheit prägten“
„Der Krieg bleibt, was er immer war: eines der größten Mysterien der Menschheit.“ Diesen Satz hatte die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch in ihrem Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ geprägt. 2015 bekam sie den Nobelpreis für Literatur. Die kanadisch-britische Historikerin Margaret MacMillan hat diese Sentenz aufgegriffen und ihrem eigenen Buch „Krieg. Wie Konflikte die Menschheit prägten“ vorangestellt.
Krieg und Gesellschaft sind tief ineinander verwoben
Seit vergangener Woche fügt das imperialistische Russland mit dem Angriff auf die Ukraine der Kriegsgeschichte ein weiteres Kapitel hinzu. Aber nicht nur deshalb ist das Buch MacMillans das Buch der Stunde. Die Autorin, die bereits ein gewichtiges Werk über die Friedenskonferenz von Versailles verfasste (die mit den Keim für den nächsten Weltkrieg legte), warnt: „Wenn wir nicht begreifen, wie tief Krieg und Gesellschaft ineinander verwoben sind …, übersehen wir eine wichtige Dimension der Menschheitsgeschichte“. MacMillans Credo: „Wenn wir nicht verstehen, warum wir kämpfen, können wir kaum darauf hoffen, künftig Konflikte zu vermeiden.“
Von den Stammeskämpfen zu den Maschinenkriegen der Gegenwart
Europa mag seit 1945 weitgehend konfliktfrei gewesen sein. Ausnahmen waren etwa die Konflikte um Nordirland und das Baskenland oder auch der Krieg in Ex-Jugoslawien. Aber in vielen anderen Ecken der Welt sind heiße Kriege wie latente Konflikte, ob nun von Habgier, Furcht oder Ideologie gespeist, wie eh und je „Alltag“. Erinnert sei an die vielen Feldzüge, die Israel führen musste, aber auch selbst (im Libanon) führte.
Insofern sollte man MacMillans essayistisches Buch unbedingt lesen. Darin erörtert sie in neun Kapiteln grundsätzliche Fragen an die Weltgeschichte des Krieges – von den Stammeskämpfen der Frühgeschichte bis in die jüngste Zeit. Und sie zeigt auch, wie eng Gesellschaft und Zivilisation mit dem Krieg verflochten sind.
Von wegen friedliches Regenwald-Volk…
Allerdings birgt der Band auch manche „Zumutung“. So räumt die Autorin mit falschen Vorstellungen gründlich auf: Beispielsweise werden die Yanomami in Europa gerne als Sinnbild eines friedlichen Volkes im brasilianischen Regenwald angeführt. Und innerhalb ihres eigenen Dorfes mögen sie auch in Harmonie leben. Andere Dörfer werden hingegen immer wieder gern überfallen, um Männer und Kinder zu töten und die Frauen zu vergewaltigen. Feldforschungen ergaben, dass der Tod von rund einem Viertel der Yanomami-Männer auf Gewalt zurückzuführen war.
„Erfordert erhebliche Kontrolle der Gesellschaft durch die Regierung“
MacMillan merkt an, dass Krieg „vermutlich die am besten organisierte aller menschlichen Aktivitäten“ sei, aber auch „seinerseits die Organisation der Gesellschaft vorangetrieben“ habe. Selbst in Friedenszeiten erfordere die Vorbereitung für den Kriegsfall … eine erhebliche Kontrolle der Gesellschaft durch die Regierung.“ Verblüfft werden die meisten zur Kenntnis nehmen, wie viele an sich durchaus positive Entwicklungen in Verwaltung, Technik, Medizin, Rechtswesen und Politik mit Kriegen zusammenhängen. Wie sagte schon der griechische Philosoph Heraklit: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge und der König aller. Die einen macht er zu Göttern, die andern zu Menschen, die einen zu Sklaven, die andern zu Freien.“
„Feind der Menschheit“ sollte nicht nur besiegt, sondern vernichtet werden
Die Historikerin analysiert in ihrem Buch auch die verschiedenen – oft vorgeschobenen oder erschreckend banalen – Gründe für die Entfesselung von Kriegen. Die radikalen französischen Revolutionäre zum Beispiel wollten nach 1789 die Welt erlösen. Ähnlich wie in den früheren Religionskriegen stilisierten sie den Gegner zum Feind der Menschheit selbst, der nicht nur besiegt, sondern restlos vernichtet werden muss.
Drill verwandelt Männer zu Muskeln einer Tötungsmaschine
Auch die Methoden zur Formung todesbereiter Kämpfer nimmt die Autorin in den Blick und nimmt kein Blatt vor den Mund. So schreibt sie: „Wir mögen die bloße Vorstellung eines Drills verabscheuen, der Männer in Teile einer großen Maschine verwandelt und ihre Muskeln arbeiten lässt, aber er ist notwendig, wenn sie in der Schlacht funktionieren sollen.“ Warum Soldaten kämpfen, mitunter sogar in militärisch schlechter Lage? „Ein starkes Kameradschaftsgefühl und die Bereitschaft, Befehlen zu gehorchen, bringen Männer dazu, gemeinsam zu kämpfen und durchzuhalten; sie können zugleich zu systematisch organisierter Grausamkeit und Boshaftigkeit führen“, konstatiert MacMillan.
Engländer ohne „Blitz“-Erfahrung waren rachsüchtiger
Die Autorin wirft einen Blick auf die Entwicklung von Strategien und Waffensystemen, aber auch auf die Kriegserfahrungen von Soldaten und Zivilisten, die in der Regel sehr unterschiedlicher Natur sind. Es gibt oft eine Kluft zwischen Kriegs- und Heimatfront, Zivilisten hassen den Feind oft stärker als es die Kämpfer an der Front tun. So führt MacMillan zum Beweis eine britische Untersuchung zum Zweiten Weltkrieg an, die offenbarte, dass Bewohner ländlicher Gebiete, die nicht vom deutschen „Blitz“ betroffen waren, eher dafür waren, zur Vergeltung deutsche Städte zu bombardieren, als diejenigen, die in von Angriffen schwer getroffenen Städten lebten.“ Bekanntlich bombten die Engländer und Amerikaner dann viele deutsche Städte in Schutt und Asche. Und es war, so MacMillan, „kein Versehen, dass in den Nürnberger Prozessen Flächenbombardements nicht in den Anklagen gegen NS-Kriegsverbrecher aufgenommen wurden“.
Die Schönheit in der Zerstörung
Auch auf die Rolle von Literatur und Kunst für die Propaganda und die Erinnerungskultur des Krieges geht MacMillan in ihren gewichtigen Werk ein. Dabei scheut sie sich nicht, unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Für sie ist es zu einfach zu sagen, große Kunst erwachse nur mit Blick auf den Schrecken und die Sinnlosigkeit von Kriegen. Manche Kämpfer hätten erkannt, dass es im Schönheit im Krieg selbst geben könne. MacMillan erinnert an den kanadischen Maler Alexander Young-Jackson, der am Ende des Ersten Weltkriegs schrieb: „Eines Abends begleitete ich Augustus John, um einen Giftangriff zu sehen, den wir auf die deutschen Linien unternahmen. Mit unseren Gaswolken und den deutschen Leuchtsignalen und Geschossen in allen Farben war es ein wundervolles Feuerwerk.“ Oder da wäre der Film „Apocalypse Now“. Und auch Regisseur Francis Ford Coppola mag – auf der Grundlage von Joseph Conrads Roman „Herz der Finsternis“ – einen Antikriegsfilm gedreht haben wollen, eine Anklage gegen den westlichen Imperialismus. „Doch er stellte den Krieg teilweise als aufregend und schön dar“, wie MacMillan anmerkt.
Kurzüberblick:
Margaret MacMillan: „Krieg. Wie Konflikte die Menschheit prägten“. Propyläen-Verlag 2021, 384 Seiten, ISBN: 9783549100424, 30 Euro
Autor der Rezension: Christian Ruf
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