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Chip-Knappheit – mit 1000 Chips durch den Tag

Über 1000 Chips begleiten den modernen homo digitalis durch seinen Alltag - oft auch so um Hintergrund, dass das omnipräsente Wirken der Mikroelektronik nicht immer auffällt. Foto: Heiko Weckbrodt

Über 1000 Chips begleiten den modernen homo digitalis durch seinen Alltag – oft auch so um Hintergrund, dass das omnipräsente Wirken der Mikroelektronik nicht immer auffällt. Foto: Heiko Weckbrodt

Ein kleiner Überblick, wie viele Schaltkreise unseren Alltag mitbestimmen

Der Entwurf für ein europäisches „Chip-Gesetz“, den EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vorgelegt hat, hat die Debatte um die besondere Rolle der Mikroelektronik für die gesamte Volkswirtschaft neu entfacht. Vielen Menschen ist aber womöglich gar nicht klar, wie omnipräsent Mikrochips eigentlich sind, wenn man hinter die Fassaden und Gehäuse unserer Alltagswelt schaut. Der Schaltkreisdesign-Experte und Oiger-Gastautor Stefan Schubert* von der „Productivity Engineering GmbH“ in Kesselsdorf bei Dresden hat mit geschultem Auge aufgeschrieben, wo überall Mikroelektronik „drinsteckt“:

100 Chips, allein um Musik zu hören

Ich liege abends auf dem Sofa und habe meine Ear-Buds im Ohr. Ich höre Musik von meiner Fritz-Box, die ich als NAS-Server** nutze. Da liege ich nun und frage mich, wie viele Halbleiterchips mich den Tag über begleitet haben. Das WLAN überträgt die Daten vom USB-Stick an der Fritz-Box (40 Chips) auf mein Smartphone – in dem zirka 50 Chips stecken. Das Telefon decodiert den Datenstrom und gibt ihn digital an den Bluetooth-Transceiver weiter, der auch im Smartphone steckt. Der Transceiver sendet den Datenstrom zu den Kopfhörern (20 Chips), die die digitalen Informationen in ein analoges Signal wandeln, verstärken und schließlich in Schwingungen transformieren, die mein Ohr hören kann. Die Musik vom USB-Stick in der Fritz-Box bis zu meinem Ohr brauchte mehr als 100 Chips verschiedenster Hersteller, Art und Technologie. Davor haben die Macher der Musik ebenfalls Hunderte Chips – aufgereiht in Signalverarbeitungsketten – gebraucht, um die Musik zu erzeugen, bearbeiten, produzieren und zu verbreiten.

Sechs Schaltkreise im Heimoffice in der Entwicklung

Ich entwickle mit meinem Team integrierte Schaltkreise. Im Laufe meines Home-Office-Tages hatte ich dabei heute mit sechs verschiedenen Chips zu tun, die sich bei uns im Team in unterschiedlichen Entwicklungsstadien befinden.

Strombetriebene Wärmepumpen - hier ein Vaillant-Modell - könnten die Heizungs-Umwelt-Bilanz von Eigenheimen verbessern. Sie sind aber auch nicht ganz billig. Foto: Vaillant

Auch Wärmepumpen brauchen Schaltkreise – hier ein Vaillant-Modell. Foto: Vaillant

Über 100 Chips in der Haus-Wärmetechnik

Früh hat mich der Wecker auf dem Nachtschrank geweckt. Darin ist ein Chip. Dabei empfängt der Wecker ein Signal, das ihm – von einer Atomuhr in Braunschweig gesteuert – die exakte Zeit sendet. In dieser Atomuhr sind mindestens einige Hundert Chips eingebaut. Zwei Stunden vorher ist die Wärmepumpe an gegangen, ebenfalls von der Atomuhrzeit gesteuert. Ein Außensensor (zwei Chips) misst die Außentemperatur am Haus für die richtige Heizkurve. In der Wärmepumpe sind etwa 100 verschiedenartigste Chips verbaut. Dazu zählen auch die zentrale Steuereinheit und die Einzelsteuerungen für das Solarmodul und die Warmwasserbereitung sowie die Chips in den beiden Umwälzpumpen.

Kein LED-Licht, Sat-Fernsehen oder elektrisches Zähneputzen ohne Elektronik

Der Mensch braucht im Dunkeln Licht. Also die mit einem Chip gedimmte LED-Beleuchtung angeschaltet, das Netzteil für die LEDs – ein Chip. Ich lege meine Smart Watch um das Handgelenk. Sie enthält etwa 30 Chips. Zähne mit der elektrischen Zahnbürste putzen – zwei Chips. Wasserkocher – ein Chip, Nachrichten aus dem Frühstücksfernsehen – 200 Chips im TV, Hunderte Chips auf der Senderseite im Studio und auf der Übertragungsstrecke. Auch der Astra-Satellit braucht Chips, der LNB-Empfänger an der Satellitenschüssel immerhin sechs Chips. In der Nacht haben fünf Rauchmelder im Haus ihren Überwachungsdienst getan. In jedem ist ein Chip verbaut.

Die Mikrowelle macht mit fünf Chips die Reste vom Wochenende heiß

Dann bin ich ins Home-Office rüber gegangen. Dort arbeitet ein Laptop mit Monitor, Maus (1) und Tastatur (1) – in Summe geschätzte 50 Chips. Verbunden mit dem Internet, über den grauen Anschlusskasten bei uns am Straßenrand, in dem auch ein Rechner seinen Dienst tut – 100 Chips. Dann geht es über Router und Switches in unbekannte Tiefen des Internets, bis in unsere Firma und das den ganzen Arbeitstag lang. An diesem Signalweg sind ebenfalls Hunderte Chips beteiligt. In der Pause wieder der Wasserkocher mit einem Chip. Zum Mittag macht die Mikrowelle mit fünf Chips die Reste Essen vom Wochenende heiß.

ON Semiconductor stellt unter anderem Leistungselektronik-Bauelemente wie diesen Siliziumkarbid-basierten MOSFET-Transistor her, aber auch Sensoren, Analogelektronik und andere Halbleiter beispielsweise für den Einsatz in allgemeiner Industrie und im Autobau. Foto: ON

Leistungselektronik – hier ein Siliziumkarbid-basierter MOSFET-Transistor – ist für Elektroautos, Solaranlagen und viele andere Anlagen unerlässlich. Sie kommt auf die Zahl der klassischen Logik-, Speicher- und Sensorelemente noch obendrauf. Foto: ON

Für Solardach und Elektromobilität kommt noch die Leistungselektronik dazu

Draußen ist es einigermaßen hell – für Winterverhältnisse. Die Photovoltaikanlage auf dem Dach erzeugt nur knapp ein Kilowatt pro Stunde. Im Wechselrichter sind zirka 30 Chips verbaut, neben der Leistungselektronik, die auch Halbleiter nutzt. Grund genug, das E-Auto umweltfreundlich nachzuladen. Es ist schon an der Wallbox angeschlossen. Die Wallbox enthält etwa 15 Chips plus Leistungselektronik. Beim Laden hilft das Smartphone wieder. Eine Software verbindet das Smartphone über das Internet mit einer Serverfarm – irgendwo. Von dort geht es über LTE-Mobilfunk – der sehr viele, aber nie nachgezählte Chips in der Signalkette erfordert – bis zum Auto vor der Tür. Ich klicke auf „Laden Starten“ und der Strom fließt von den Solarzellen in die Autobatterien. Diese haben eine komplexe Ladesteuerung bestehend aus – Chips. Am Nachmittag fahre ich mit dem E-Auto zu einem Termin. Das Auto öffne ich mit einer Fernbedienung (1). Über das Smartphone und entsprechende Infrastruktur heize ich den Innenraum des immer noch an der Wallbox steckenden Fahrzeugs vor. Auf diesem Weg tun wieder unzählige Chips ihren Dienst.

Selbst die Torsäule hat zehn Chips intus

Derweil führe ich ein letztes Videogespräch mit einem Kollegen. Das Auto ist angenehm warm, als ich losfahre. Mit der Fernbedienung (ein Chip) öffne ich das Schiebetor, bevor ich das Grundstück verlasse. In der Torsäule sind zirka zehn Chips verbaut. Im Auto verrichten nun andere Chips ihr Werk als während des Ladevorganges. Das Display informiert über die wichtigsten Funktionen, das Navi zeigt den Weg – GPS-Verbindung mit fünf Satelliten wird angezeigt. Das Auto ist über LTE permanent bei Bedarf mit einem Nothilfeservice verbunden, den man per Knopfdruck erreichen kann. Hunderte Chips in der Signalkette ermöglichen das. Die Gleichspannung aus den Batterien muss in der Frequenz variierend in Wechselstrom umgewandelt werden. Das steuern verschiedene Chips in der Signalkette beim Tritt auf das „Gas“-Pedal. Eine winzige Winkelveränderung am „Gas“-Pedal (Sensor-Chip) hat große Auswirkungen auf die Beschleunigung des zwei Tonnen schweren Fahrzeuges. Die LED-Scheinwerfer werden durch Chips gesteuert. Chip gekoppelte Sensoren ermöglichen die Reaktion auf entgegenkommende Fahrzeuge durch partielle De/Aktivierung der Front-Scheinwerfer. Beim Loslassen des „Gas“-Pedals tritt die Bremswirkung des Motors ein, der nun zum Generator wird, bei der die negative Beschleunigungsenergie der Fahrzeugmasse die Batterien wieder lädt. Gleichzeitig leuchten die zwei LED-Bremslichter auch ohne Betätigung des Bremspedals. Auch daran sind viele Chips beteiligt.

13 Chips für Arztbesuch und Apotheke

Ich habe einen Termin beim Hausarzt. Die Schwester an der Rezeption liest über ein Lesegerät meine Patientendaten von meiner Krankenkassenkarte. Dort ist ein Chip drin. Im Lesegerät sind fünf Chips. Eine digitale Waage misst mein Körpergewicht – ein Chip. In der Apotheke bezahle ich mit meiner EC-Karte – ein Chip. Dazu kommen die fünf aus dem Lesegerät.

Der kleinere Tolino-Tablettrechner mit 7-Zoll-Bildschim. Foto: Thalia

Tolino-Tablett fürs E-Bücher-Lesen. Foto: Thalia

Ohne Chips keine E-Buch-Lektüre

Wieder zu Hause heize ich den Wasserkocher für einen Tee. Die Thermostaten in der Wohnung haben in der Zwischenzeit auch das Wohnzimmer an die Heizung geschaltet und die im Arbeitszimmer längst ausgeschaltet. In jedem Wandthermostaten sind fünf Chips. Da es draußen dunkel ist, wurden die Rollläden automatisch herunter gelassen mit Zeitschaltuhren an der Wand. Jede Uhr enthält vier Chips. Ich mache es mir gemütlich und lese auf dem „Tolino“ einen Science-Fiction Roman. Im „Tolino“ stecken zirka zehn Chips. Das digitale Buch kommt aus der Online-Bibliothek.

Prognose: In zehn Jahren fällt die Rechnung noch mal ganz anders aus

Später dann stecke ich meine Ear-Buds in die Ohren und denke bei Musik vom USB-Stick in meiner Fritz-Box über Chips von heute nach … es waren wohl deutlich mehr als 1000. Sollte ich diese Überlegungen in zehn Jahren noch einmal anstellen, sind bis dahin Milliarden von „IoT devices“ – also Geräten, Schaltkreisen, Sensoren und andere „Dinge“ im Internet der Dinge – miteinander vernetzt. In jedem Knoten arbeitet mindestens ein Edge-AI-Chip***. Das ist ein Chip mit der Fähigkeit, am Sensor selbst Sensordaten über Algorithmen zu analysieren und die Ergebnisse zu kommunizieren. Informationen werden so bereits am Ort der Gewinnung durch künstliche Intelligenz aus großen Datenmengen extrahiert und belasten nicht die ohnehin weiterwachsenden Rechenzentren der Welt. Mit den Daten dieser Chips werden Herausforderungen bei der CO2-reduzierten Energieumwandlung, der Logistikketten, der Klimaveränderung, der Mobilität oder einfach nur des täglichen Lebens zunehmend besser gelöst werden.

Autor: Stefan Schubert

Quellen: Die Anzahl der ICs wurde durch eigene Untersuchungen und im Netz verfügbare „TearDown“ Berichte gestützt.

* Über unseren Gastautor:

Stefan Schubert ist Mitgründer und Leiter der seit 2005 bestehenden Niederlassung der Firma Productivity Engineering GmbH in Kesselsdorf bei Dresden, die heute zur französischen Serma Group gehört. In Kesselsdorf werden ASICs (Applikationsspezifische Integrierte Schaltkreise) entwickelt.

Zuvor war er in den USA und bei drei Halbleiterunternehmen in Dresden in verschiedenen entwicklungsorientierten Funktionen tätig. Er hat über 100 ASIC Entwicklungen begleitet.

Nach dem Elektrotechnik-Studium an der TU Chemnitz begann er seine berufliche Laufbahn 1995.

Erklärungen

** NAS-Server = „Network Attached Storage Server“ – ein Netzwerk-Rechner, der es ausgewählten Nutzern erlaubt, zum Beispiel Musikstücke, Videos oder andere Dateien innerhalb des Netzwerks abzurufen und hochzuladen. Solch ein System kann zum Beispiel in einem Heimnetzwerk sinnvoll sein, damit jedes Familienmitglied in jedem Raum Zugriff auf die gemeinsam genutzten Multimedia-Dateien der Familie bekommt.

*** Edge-AI-Chip = Schaltkreis, der Künstliche Intelligenz (KI) am Netzwerkrand (Edge) bereitstellt, englisch als Edge AI abgekürzt.

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt