Literarische Gratwanderung zwischen Yakuza-Gangstern, Huren und Anwälten
Einen weiten Weg ist Eiji Miyake gegangen, von seiner Insel in den Moloch Tokio. Wenige Tage vor seinem 18. Geburtstag sitzt er in einem Café in der Innenstadt und raucht eine nach der anderen. Durch das Fenster kann er die Festung der Anwälte sehen, das „Panoptikum“. Darin sitzt die wohl einzige Frau, die ihm sagen kann, wer sein Vater ist – seiner und der seiner ertrunkenen Zwillingsschwester Anju. In seinen Tagträumen am Café-Tisch spielt er unzählige Mal durch, wie er Anwältin Akiko Kato den Namen des Vaters entringt, mal als rasender Superheld, mal als gedemütigter Knirps, mal kehrt er verzagt um: „Number 9 Dream“.
Große Fabulierkunst
In seiner gleichnamigen Erzählung spielt David Mitchel („Cloud Atlas“) eines seiner Lieblingsspiele, die Variation. Diesmal ist es allerdings die menschliche Imagination mit der er jongliert, mit der er Rollen und Situationen variiert. Dabei stellt er den Leser auf die Probe, fordert ihn heraus, mittels Plausibilitätserwägungen selbst zu extrahieren, was Fiction war und welchen Weg der junge Eiji wirklich gegangen ist, um den unbekannten Vater in der Megacity aufzuspüren.
Leseprobe: „Der Mongole klettert näher. Kein Adrenalinstoß wird mit am Leben erhalten, wenn ich aus dieser Höhe falle. Kein Adrenalinstoß wird mich einen echten, lebenden Söldner mit einer echten Pistole entwaffnen lassen. Wer wird mich vermissen? Katze wird einen neuen Schlafplatz finden. Meine Großmutter wird die Nachricht mit einem leeren Gesicht empfangen und einen halben Tag schweigen. Dann wird sie sagen: „Seine Schwester rief ihn, also ging er.’“
Zwischenwelten einer Megacity
Und das ist nicht immer einfach, gleiten doch surreale Erlebnisse, Träume und Alltag für den jungen Japaner nahtlos ineinander über: Mal wird er von Yakuza-Gangstern gejagt, mal wird er selbst zum Tier, mal saugt er sich in ein Videospiel, mal führen ihn Zufälle (?) wirklich in virtuell anmutende Parallelwelten der tokiotischen Unter- und Oberwelt. Passagen innerer Einkehr wechseln mit Eruptionen brutaler Gewalt.
Fazit:
Mitchells zweite große Erzählung nach „Ghost Written“ (deutsch: „Chaos“) ist kein einfacher Lesestoff, fordert sie den Rezipienten doch zu ständigem Puzzlespiel auf. Aber: Es lohnt sich dranzubleiben, schon wegen der stilistischen Brillanz, den unorthodoxen Wortjonglagen Mitchells. Vor allem aber, weil wir nach acht Kapiteln, acht Perspektiven einen fühlenden, lebendigen Menschen vor uns haben, den wir zutiefst zu verstehen beginnen – und Fabulierkünstler David Mitchell hat uns erneut vor Augen geführt, wie „Alles mit Allem verbunden ist“.
Heiko Weckbrodt
David Mitchell: „Number 9 Dream“, Original: London 2001, dt. Ausgabe; Rowohlt, Reinbek 2006, ISBN 978-3-499-25238-9, eBuch (nur Englisch verfügbar, Kindle-Edition): sieben EuroWeitere Rezensionen von David Mitchell-Werken:
Bluray „Cloud Atlas“: Weltgeschichte über den Wolf im Menschen
David Mitchells Weltzeitmaschine „Wolkenatlas“
Die 1000 Herbste des Jacob de Zoet
„Ghostwritten“: Von Mao bis zur moralischen KI
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