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Roman „Der Wolkenatlas“: Mitchells raffinierte Zeit- und Weltmaschine

"Alles ist mit allem verbunden", heißt es in der Filmversion des "Wolkenatlas" - Sechs Menschenleben, über die Epochen miteinander verwoben. Abb.: X-Verleih/Warner

„Alles ist mit allem verbunden“, heißt es in der Filmversion des „Wolkenatlas“ – Sechs Menschenleben, über die Epochen miteinander verwoben. Abb.: X-Verleih/Warner

David Mitchell, Baujahr 1969, Lancester. Foto: Rowohlt

David Mitchell, Baujahr 1969, Lancester. Foto: Rowohlt

Der amerikanische Notar Adam Ewing schließt sich nach einer vergifteten Pazifikreise in San Francisco den Sklavenbefreiern an. 70 Jahre später liest der Dandy Robert Frobisher Ewings Tagesbuch, schreibt in Belgien eine Meisterkomposition und schießt sich eine Kugel durch den Kopf. Weitere 80 Jahre darauf liest Luisa Ray Roberts Briefe an dessen Liebhaber, den Physiker Sixsmith – der die Journalistin auf eine tödliche Bedrohung für San Francisco aufmerksam macht. In unserer Gegenwart bekommt Verleger Tim Cevendish ein Roman-Manuskript mit dem Titel „Luisa Rays erster Fall“, kurz bevor ihn Gier und sein Bruder in die Rentnerklapse einsperren. Rund 200 Jahre später bekommt die geklonte Bedienerin Sonmi 451 im von der Konzernokratie beherrschten Korea ein Filmfragment des „Grausigen Martyrium des Timothy Cavandish“ in die Hände und bricht aus ihrer Sklavenwelt aus. Eine Apokalypse später beten ein pazifistischer Stamm auf Hawai Somni als Göttin untergegangener Moral und Zivilisation an…All diese Menschen verbindet ein feines Gespinst aus Korrelationen über die Äonen und Kontinente hinweg – ein „Wolkenatlas“ aufsässiger Seelen, wie Robert Frobisher seine Meisterkomposition nannte und gleichzeitig Titel von David Mitchells kürzlich verfilmten Romans „Der Wolkenatlas“.

Äbtissin der Sonmi: „Seelen ziehn übern Himmel vonner Zeit wie Wolken übern Himmel vonner Welt ziehn.“

Wer das Kino verwirrt, aber berührt verlassen hat, dem sei die Lektüre der literarischen Vorlage ans Herz gelegt: Anders als in der blitzlichtartigen Schnittfolge in der Leinwandadaption durch Tom Tykwer („Lola rennt“) und die Wachowskis („Matrix“) folgt der britische Autor Mitchell dem Kompositionsprinzip seines Romanhelden Frobisher: Jedes Thema wird durch das nachfolgende unterbrochen und auf dem Spannungshöhepunkt in absteigender Folge wieder aufgenommen und zu Ende erzählt. Auch das ist insofern keine leichte literarische Kost, als sie dem Leser Konzentration abverlangt – aber dennoch will man den dicken Wälzer beziehungsweise das eBuch keinen Moment aus den Händen legen, um weiter zu verfolgen, wie Mitchell sein weltgeschichtliches Netz weiterknüpft.

Film-Trailer (Warner/X-Verleih):

Auch macht die literarische Vorlage manches verständlicher, was im Film nur angerissen wird, die Gründe für Sonmis Aufstieg beispielsweise. Auch setzt sich Mitchell hier intensiv mit den Mechanismen und Triebkräften völkermordender Kolonisatoren aus – und zwar nicht nur europäischer.

Eigene Sprache und Stilistik für jede Epoche

Die geklonte Sklavin Somni wird Jahrhunderte später als Göttin verehrt. Abb.: X-Verleih/Warner

Die geklonte Sklavin Somni wird Jahrhunderte später als Göttin verehrt. Abb.: X-Verleih/Warner

Ein besonderes – wenn auch ungewohntes – Bonbon, an das man sich erst gewöhnen muss, ist der Einsatz sprachlich-stilistischer Mittel, die im Film nur anklingen: Für jede Geschichte setzt Mitchell auf ein anderes Genre – Reisetagebuch, Briefroman, Präsenz-Erzählung, Archivalie – und sprachliche „Eigenthümlichkeiten“ der jeweiligen Epoche. In der deutschen Übersetzung sind die Tagebücher Ewings zum Beispiel in der Orthografie des 19. Jahrhunderts verfasst. Die dezivilisierten Stämme der postapokalyptischen Erde hingegen verwenden eine Mischung aus Kinder-Sprech und lautreduzierter Sprache.

Wer die Vergangenheit deutet, kontrolliert die Gegenwart

Auch wird der aufmerksame Leser viele Anspielungen auf zahlreiche Werke der Weltliteratur finden und elegant eingewobene philosophische Exkurse. Über die Konstruktion von Identität durch kontrollierte Geschichtsschreibung zum Beispiel, die auch schon in Orwells „1984“ erörtert wurde: Wer die Deutungshoheit über die Vergangenheit hat, so der Tenor, kontrolliert auch das Denken der Gegenwart.

Isaac Sachs (Kernphysiker, 1971): „Die Katastrophe, die sich real zugetragen hat, gerät zunehmend in Vergessenheit, je mehr Augenzeugen sterben, Dokumente verschwinden… Der virtuelle Untergang… , der durch bearbeitete Erinnerungen Zeitungsberichte, Gerüchte, erfundene Geschichten …. entsteht, wird indes zunehmend ,wahrer’“

Fazit:

Der „Wolkenatlas“ atmet den Geist literarischer Evolution – stilistisch wie erzählerisch. So gewöhnungsbedürftig die eingesetzten Techniken auch zunächst sind, so schwer ist es, sich letztlich ihrem Bann zu entziehen. Dass diese belletristische Zeit- und Weltmaschine so gut funktioniert, liegt auch daran, dass sie offensichtlich auf dem Fundament aufwendiger historischer, komparativer und linguistischer Recherchen gebaut ist: Mitchell schnörkelt oder fabuliert kaum „nur“ aus dem Bauch heraus, sondern webt ein plausibles Netz, dass sich im Zukunftsteil auf faszinierende Interpolationen stützt.

Adam Ewing (Notar, um 1851): Erst wenn du deinen letzten Atemzug gethan hast, wirst du begreifen, daß dein Leben nicht mehr gewesen ist als ein Tropfen in einem grenzenlosen Ocean! Was aber ist ein Ocean anderes als eine Vielzahl von Tropfen?“

Abb.: Rohwolt

Abb.: Rohwolt

Den Schuss Reinkarnations- und „Alles ist mit allem verbunden“-Esoterik verzeiht man ihm da gern. Die kometenförmigen Muttermale, die all seine rebellischen Akteure tragen, ist eher als Vehikel für seine Grundidee zu verstehen: Es sind oft die kleinen Stöße, die der Billardkugel „Weltgeschichte“ eine zunächst winzige, über die Jahrhunderte hinweg aber immer bedeutsamere Kursabweichung verpassen. Und insofern ist der Gedanke, dass jeder von uns mit allen vergangenen und allen künftigen Menschenleben verknüpft ist, gar nicht so abwegig. Heiko Weckbrodt

David Mitchell: „Der Wolkenatlas“, Rowohlt-Verlag, 2006 (Original: 2004), eBuch-Ausgabe (Kindle): zehn Euro, ASIN: B009KYVYY8 (Taschenbuch: ISBN 978-3499240362, zehn Euro, 672 Seiten)
 

Leseprobe: hier

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt

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