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„Der Wittstock-Zyklus“: Was vom Mädchen-VEB übrig blieb

Seit sie 16 ist, arbeitet Elsbeth im VEB Obertrikotagenbetrieb und kümmert sich dort um die Qualitätskontrolle - bis die Wende kommt und der Betrieb untergeht. Szenenfoto aus: „Der Wittstock-Zyklus“

Seit sie 16 ist, arbeitet Elsbeth im VEB Obertrikotagenbetrieb und kümmert sich dort um die Qualitätskontrolle – bis die Wende kommt und der Betrieb untergeht. Szenenfoto aus: „Der Wittstock-Zyklus“

Langzeit-Dokumentation über Textilarbeiterinnen in der DDR auf DVD erschienen

Wittstock im Jahr 1974: Eine neue Textilfabrik wächst aus dem brandenburgischen Boden und gibt über 3000 Menschen Arbeit. Viele von ihnen sind junge Frauen aus den Dörfern ringsum. Im funkelnagelneuen VEB Obertrikotagenbetrieb „Ernst Lück“ tragen sie mehr Verantwortung und haben besser bezahlte Arbeit als viele Männer aus der Gegend. Wittstock 23 Jahre später: Das Werk ist dicht, die Frauen hangeln sich von Umschulung zu Umschulung, leben von der Stütze oder Gelegenheitsjobs. Dieses Provinzkapitel ostdeutscher Alltagsgeschichte hat der ehemalige Maschinenschlosser aus Dresden und spätere Regisseur Volker Koepp in einer schwarz-weißen Langzeitdokumentation eingefangen. Sein „Wittstock-Zyklus 1975-1997“ ist inzwischen als Doppel-DVD fürs Heimkino erschienen.

Werbevideo zum
"Wittstock-Zyklus"
von Absolut Medien

Zwischen Schichtbus und FDJ-Disko

Seine Aufnahmen sind faszinierend, entreißen sie doch eine untergegangene Lebenswelt dem Vergessen: Wie die jungen Frauen voller Enthusiasmus das erste Mal in die neue Fabrikhalle marschieren. Wie sie „etwas verändern“ wollen, aber auch von Männer und Autos träumen. Wie sie mit dem Schichtbus von den Dörfern zur Arbeit fahren und abends manchmal noch in der FDJ-Disko tanzen. Wie sie im „Mädchenbetrieb“ in Cliquen zerfallen und sich wieder zusammenraufen. Aber auch, wie sich Hierarchien bilden – zwischen denen an der Nähmaschine und den Meisterinnen und Leiterinnen. Wie sie der monotone Alltag einholt. Wie sich der VEB automatisiert und damit auch immer mehr Männer im Werk arbeiten.

Steigen zu Meisterinnen und Abteilungsleiterinnen auf, verlieren aber dabei alle Illusionen: Renate (l.) und Edith. Szenenfoto aus: „Der Wittstock-Zyklus“

Steigen zu Meisterinnen und Abteilungsleiterinnen auf, verlieren aber dabei alle Illusionen: Renate (l.) und Edith. Szenenfoto aus: „Der Wittstock-Zyklus“

Fast möchte man heulen, wenn man sieht, wie anfänglicher Elan und Formungswille Jahr für Jahr immer weiter erlöschen, jedes Mal, wenn Koepp und seine Defa-Team wieder einmal angerückt sind, um die Frauen zu interviewen. Wie aus verrückten jungen Hühnern verschlossene Menschen werden, die immer öfter in die Kamera murmeln: „Man kann ja doch nichts ändern.

Volker Koepp dreht in der märkischen Kleinstadt Wittstock im VEB Obertrikotagenbetrieb "Ernst Lück" - und lässt die Arbeiterinnen erzählen. Szenefoto aus: „Der Wittstock-Zyklus“

Volker Koepp dreht in der märkischen Kleinstadt Wittstock im VEB Obertrikotagenbetrieb „Ernst Lück“ – und lässt die Arbeiterinnen erzählen. Szenenfoto aus: „Der Wittstock-Zyklus“

Hoffnung und Deindustrialisierung

Und schließlich die Wende, die Aufbruchstimmung, die Hoffnung, dass nun alles besser wird. Die neue Ernüchterung, als sich Wittstock deindustrialisiert. Weil trotz aller Automatisierung die Kinderpullover und all die anderen Klamotten aus Wittstock nach der Währungsunion plötzlich viel zu teuer sind, um in den Discountern eine Chance zu haben. Weil in einer globalisierten Welt eben auch Wittstock wie fast die gesamte ostdeutsche Textilindustrie vor der Konkurrenz aus Asien in die Knie geht.

Wieder von den Männern abhängig

Und so lebt die einstige Abteilungsleiterin nun von der Arbeitslosenhilfe. Die einst so kecke Qualitätskontrolleurin Elsbeth, die mit 16 in den damals neuen Textilbetrieb gekommen war, stapelt jetzt Tiefkühlpizzen im Supermarkt. Sie, die einst die Familie ernährten, sind jetzt wieder von den Männern abhängig, die im neuen Deutschland eher einen Job bekommen als die Frauen. Und der Betrieb? Nur noch eine leere dunkle Halle. Die Maschinen sind weg, ein einzelnes Auto steht da, als ob es sich in einer Tiefgarage verirrt habe.

Fazit: Faszinierend und ernüchternd

Je länger der Untergang der DDR in die Vergangenheit rückt, umso mehr bleiben – zumindest jenseits der Historikergilde – von ihr nur noch wenige Schlagworte für den Schnelldurchlauf im Geschichtsunterricht übrig: Stasi, Mauer, Misswirtschaft. Und gerade deshalb sind Dokus wie der Wittstock-Zyklus so wichtig: Sie erzählen über das Alltagsleben in der DDR, sicher nur in Facetten und aus einer nicht nur objektiven Perspektive, aber so ist das nun einmal mit Erinnerungen. Die Machart mag nicht dem heutigen Usus entsprechen. Auch ist die Tonqualität schlecht und leider gibt es auch keine Untertitel. Aber dennoch ist Koepps Langzeit-Dokumentation faszinierend, traurig, wichtig und ernüchternd zugleich.

Hülle der DVD „Der Wittstock-Zyklus“

Hülle der DVD „Der Wittstock-Zyklus“

Kurzüberblick

  • Titel: „Der Wittstock-Zyklus . 1975-1997“
  • Genre: Langzeit-Dokumentation
  • Produktionsland und -Zeit: DDR/BRD 1974-1997
  • Regisseur: Volker Koepp
  • Mitwirkende: Edith, Elsbeth und Renate und viele andere
  • Laufzeit: 393 Minuten auf zwei DVDs
  • Verlag: Absolut Medien
  • Preis; DVD 13 Euro, Videostrom: ca. 15 Euro

Autor der Rezension: Heiko Weckbrodt

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt