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Die Videoaugen der Stasi

Überwachungs-Phantasien: Die Stasi wollte das gesamte Berliner Zentrum mit Kameras verwanzen und aus einer geheimen Hightech-Zentrale überwachen. Abb.: Bree, Wikipedia, hw

Überwachungs-Phantasien: Die Stasi wollte das gesamte Berliner Zentrum mit Kameras verwanzen und aus einer geheimen Hightech-Zentrale überwachen. Abb.: Bree, Wikipedia, hw

Überwacher überlastet: MfS wollte Berliner Zentrum und Autobahnen mit Kameras verwanzen

Im Zuge des Geheimplans „Strategie 2000“ wollte die Stasi das gesamte Zentrum von Berlin mit Videokameras verwanzen und die City samt aller Transit-Autobahnen von einem Hightech-Stützpunkt an der Hermann-Matern-Straße aus fernüberwachen. Das geht aus einer neuen Publikation „MfS-Handbuch: Hauptabteilung VIII“ der Stasi-Unterlagenbehörde hervor. Ein Hauptgrund für dieses Projekt, dessen Kostenpläne immer mehr ausuferten, war die zunehmende Überlastung des Stasi-Überwachungsapparats in den 1980er Jahren.

Die ersten Überlegungen, die als Brutstätte „Politisch-Ideologischer Diversion“ (Stasi-Kürzel: PID) betrachtete Hauptstadt von einem zentralen Stützpunkt aus zu überwachen, keimten bereits ab 1977 im Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Federführend war die Hauptabteilung (HA) VIII, als eine Art zentraler Dienstleister für Überwachungsaktionen, Ermittlungen, geheime Durchsuchungen und Festnahmen für andere Stasi-Abteilungen zuständig. Dieser erste Anlauf scheiterte jedoch an der mangelhaften Videotechnik, die in der DDR verfügbar war.

Pilotprojekt wurde am Grenzübergang Friedrichstraße realisiert

Der Grenzübergang am Bahnhof Friedrichstraße war für die Stasi das Pilotprojekt "Brücke" für die totale Kameraüberwachung. Abb.: Klaus Franke, Bundesarchiv, Wikipedia

Der Grenzübergang am Bahnhof Friedrichstraße war für die Stasi das Pilotprojekt "Brücke" für die totale Kameraüberwachung. Abb.: Klaus Franke, Bundesarchiv, Wikipedia

Das änderte sich in den 1980er Jahren verändert: Mit ihren Sonder-Devisenetats kaufte die Stasi Überwachungskameras, Videorekorder und andere Technik beim Klassenfeind ein und realisierte als eine Art Pilotprojekt die Totalüberwachung der Grenzübergangsstelle am Bahnhof Friedrichstraße. Im konspirativen Stützpunkt „Brücke“ observierten 24 Stasi-Leute rund um die Uhr mit einem komplexen Kamera- und Aufzeichnungssystem den gesamten Reiseverkehr – wenn den Schlapphüten ein „Bundi“ verdächtig vorkam, standen mehrere „Aufnahmebrigaden“ an der Friedrichstraße in ständiger Bereitschaft, um die Zielperson auf ihrem Weg durch Berlin zu beschatten.

Während „Brücke“ für die Stasi den Nachweis praktischer Machbarkeit solcher technischer Lösungen lieferte, entbrannte etwa zeitgleich zwischen dem Ministerium und den Kreisdienststellen eine Diskussion über Aufwand und Nutzen des Rundum-Überwachungs-Ansatzes, den der Geheimdienst jahrelang gegen echte und vermeintliche „Gegner“ fuhr.

Massenüberwachung stasi-intern immer umstrittener

Massiv überwacht: Robert Havemann. Abb.: Horst Sturm, Bundesarchiv, Wikipedia

Massiv überwacht: Robert Havemann. Abb.: Horst Sturm, Bundesarchiv, Wikipedia

Zwar gab sich die Stasi alle Mühe, den Eindruck eines lückenlosen Überwachungsnetzes nach außen aufrecht zu erhalten. Doch Oberservierungen mit Massenaufgeboten wie im Fall des Regime-Kritikers Robert Havemann (1910-1982), den 90 Stasi-Offiziere über Jahre hinweg teils demonstrativ erkennbar und teils verdeckt mit immensem Technikaufwand überwachten, waren im Grunde genommen eine „Show“: Insidern war schon damals bewusst, dass die HA VIII trotz massiven Personalaufbaus wachsende Probleme hatte, alle Aufträge der Agentenkollegen abzuarbeiten.

Da die erstarkende Oppositionsbewegung ein immer größeres Kräfte-Aufgebot band, forderte Oberstleutnant Edeltraut Sarge von der HA VIII 1988 in einem Positionspapier, sich künftig auf „tatsächlich operativ bzw. sicherheitspolitische Schwerpunkte“ zu konzentrieren. Derweil erklärten die Kreisdienststellen, sie seien an den „Grenzen ihrer operativen Kräfte“ angelangt und forderten eine Mittel-Umverteilung. Es kam zu Flügelkämpfen innerhalb der Stasi, in denen Forderungen laut wurden, „den Massencharakter der operativen Ermittlungen zurückzudrängen“ und diese auf das „operativ notwendige Maß zu reduzieren.“

Hunderte Kameras und computergestützte Bilderkennungssysteme geplant

1987 legten die MfS-Tüftler daher eine Konzeption für das Teilprojekt „Zentrum“ der „Strategie 2000“ vor. Geplant war, rund 100 Panorama-Kameras im Berliner Zentrum zu installieren. Diese sollten unter anderem alle Bewegungen vor den Westbotschaften, den Büros von ARD und ZDF, dem Pressezentrum und an den Grenzstellen aufnehmen und in ein ehemaliges Zollgebäude zwischen Hermann-Matern- und Reinhardtstraße übertragen. Das für rund 200 Mitarbeiter ausgelegte Gebäude wollte die Stasi mit modernster Überwachungstechnik ausrüsten, unter anderem mit computergestützten Bilderkennungssystemen. Damit wollten die Agenten auch den Fehlerfaktor „Mensch“ reduzieren, da traditionelle Oberservierungsteams allzu oft Verdächtige nicht anhand der Fahndungsfotos gleich erkannten.

Zwischen Friedrichstraße und Spreebogen wollte das MfS das Hightech-Überwachungszentrum einrichten. Abb.: Google-Maps, Wikipedia

Zwischen Friedrichstraße und Spreebogen wollte das MfS das Hightech-Überwachungszentrum einrichten. Abb.: Google-Maps, Wikipedia

In den weitere Projektphasen bis zu Jahr 2000 wollte das Ministerium dann weitere, bereits verwanzte Zielgebiete mit dem Objekt „Zentrum“ vernetzen – beispielsweise den Stützpunkt „Brücke“ an der Friedrichstraße, aber auch die dann kameraüberwachten Transitstraßen und Grenzübergangsstellen zwischen BRD, DDR und Westberlin. Hier sollten Bilderkennungsysteme für die automatische Nummernschilder-Identifizierung und insgesamt über 200 Kameras installiert werden.

Kosten stiegen mit jedem Planungsjahr – zuletzt über 26 Millionen Mark

Allerdings trat bei dem streng geheimen Vorhaben ein ähnlicher Effekt auf, wie er auch heute noch bei öffentlich finanzierten Großbaustellen wie etwa der Dresdner Waldschlösschenbrücke zu beobachten ist: Die veranschlagten Kosten stiegen mit jedem Planungsjahr. Hatte Oberst Peter Rauscher von der HA VIII noch 1987 die Ausgaben mit „über einer Mio. Mark“ veranschlagt, war in einer Schätzung im Herbst 1989 bereits von 26,2 Millionen DDR-Mark die Rede – noch ohne Personalkosten.

Abb.: BStU

Abb.: BStU

Letztlich beendete die politische Wende die Verwanzungsphantasien der Stasi – wenn auch nicht die Begeisterung heutiger Hüter von „Ordnung und Sicherheit“ für kameraüberwachte Innenstädte. Am bemerkenswertesten am „Zentrum“-Projekt ist aber wohl – im Nachhinein gesehen – die dahinter stehende Überlastung der scheinbar omnipräsenten Stasi-Krake in den 1980er Jahren. Was wäre wohl gewesen, so kann man sich heute fragen, wenn die Oppositionsbewegungen in der DDR schon damals erkannt hätten, wie wirkungsvoll die Taktik der vielen kleinen Nadelstiche tatsächlich war… Heiko Weckbrodt

-> Angela Schmole/Tilman Peters: „Hauptabteilung VIII: Beobachtung, Ermittlung, Durchsuchung, Festnahme“, aus der BStU-Reihe „Anatomie der Staatssicherheit“, ISBN 978-3-942130-09-7; fünf Euro, Kostenlos zum Herunterladen hier
Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt

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