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Hören wie ein Luchs: Sachsen arbeiten an Lauschimplantaten der Zukunft

Das neue Hörsystem (das Implantat hinter dem Trommelfell) soll als Massenprodukt etwas so ein Computerchip sein und über mehrere Sensoren mit Ohr und Hirn gekoppelt sein. Foto (verändert: freigestellt): Heiko Weckbrodt

Das neue Hörsystem (das Implantat hinter dem Trommelfell) soll als Massenprodukt etwas so ein Computerchip sein und über mehrere Sensoren mit Ohr und Hirn gekoppelt sein. Foto (verändert: freigestellt): Heiko Weckbrodt

Semeco und TU Dresden wollen Hörgeräte ins Ohr verlagern und dort per KI und EEG ans Hirn koppeln

Dresden, 27. September 2024. Rund 16 Millionen Menschen in der Bundesrepublik sind schwerhörig – und damit etwa jeder fünfte Deutsche. Und diese Quote dürfte noch steigen. Denn durch die Überalterung der Gesellschaft leiden mehr und mehr Menschen unter Altersschwerhörigkeit. Zudem nimmt laut Angaben des „Deutschen Schwerhörigenbundes“ auch der Anteil schwerhöriger Jugendlicher zu. Um die Lebensqualität dieser Menschen spürbar zu verbessern, arbeitet der sächsische „Semeco“-Forschungsverbund nun an einer neuen Generation winziger Hörgeräte, die direkt ins Ohr implantiert werden. Zudem wollen sie eine Sturz- und Gesundheits-Überwachung sowie „Künstliche Intelligenz“ (KI) für ein klareres Hören in diese „Hörsysteme der Zukunft“ integrieren. Wie all das funktionieren soll, zeigen die beteiligten Ingenieure, Ohrenärzte und Neurotech-Wissenschaftler in der neuen Ausstellung „Dr. Zukunft“ im „Cosmo“-Wissenschaftsforum im Dresdner Kulturpalast.

Hörgerät im Ohr könnte wegfallen

„Hier geht es um die Zukunft der Hörgeräte und Hörimplantate“, betont Dr. Matthias Bornitz, der als Maschinenbau-Ingenieur an der Uni-Klinik für Ohrenheilkunde am Semeco-Projekt „Psychoaktives multizentrisches Kommunikationsimplantat“ beteiligt ist. Auf der einen Seite habe solch eine Implantat-Lösung ästhetische Vorteile für die Träger: „Die Ohrmuschel bleibt damit frei, das außen getragene Hörgerät fällt dann weg“, betont er.

Das Modell zeigt ein menschliches Ohr. Das Semeco-Konsortium will heutige Hörgeräte drastisch verkleinern und ins Ohr hinein verlagern. Foto: Heiko Weckbrodt

Das Modell zeigt ein menschliches Ohr. Das Semeco-Konsortium will heutige Hörgeräte drastisch verkleinern und ins Ohr hinein verlagern. Foto: Heiko Weckbrodt

Daumennagel-kleiner Chip voller Sensoren, Elektronik und Aktuatoren

Wohl noch wichtiger dürften aber die inneren Werte der geplanten Hörimplantate sein: Das nämlich soll nur noch so klein wie ein Computerchip sein, in dem mehrere Sensoren und Aktoren auf Piezo-Basis arbeiten. Die benötigte Energie holt sich das System von einem Mini-Akku, der unter der Haut implantiert wird und drahtlos von außen aufladbar ist.

Künstliche Intelligenz lauscht Gehirnwellen, um wechselnden Hör-Fokus des Menschen zu erraten

Der besondere Clous soll ein gekoppelter Spezialsensor sein, der Elektroenzephalogramme (EEFs) von den Gehirnwellen des Trägers abtastet. Die Idee ist, dass eine KI aus diesen Rohsignalen ermittelt, worauf sich der schwerhörige Mensch eigentlich fokussieren will, welche Störgeräusche – etwa vom Presslufthammer unten auf der Straße – das Hörsystem lieber herausfiltern möge oder welcher Hauptgesprächspartner beispielsweise auf einer Party so nuschelt, das seine Sprachsignale womöglich augmentiert, also verbessert werden müssen. Ansatzweise gibt es solche Filtertechnologien zwar auch schon in heutigen Hörgeräten, aber die Implantat-Lösung soll hier für einen Quantensprung in puncto Leistung, Genauigkeit und Komfort bringen. Parallel dazu ist geplant, die KI- und EEG-gestützten Technologien der neuen Hörsysteme auch auf Cochlea-Implantate zu übertragen.

Forscher wollen auch Sturz- und Vitalsensoren integrieren

Und auch an diesem Punkt wollen die Forscher noch nicht stehen bleiben: Zusätzlich möchten sie auch in die Implantate weitere Sensoren und Auswerteelektronik integrieren, die zum Beispiel den Sturz eines Seniors mit solch einem Hörsystem automatisch erkennen und Hilfe rufen. Andere Fühler sollen Puls, Sauerstoffsättigung, Blutdruck und andere Vitalwerte erfassen.

„Hier stecken elf Jahre Entwicklung drin“, sagt Prof. Christian Mayr von der Technischen Universität Dresden (TUD) über den Neurocomputer „NMPM1“, den Forscher der Unis Heidelberg und Dresden gemeinsam im „Human Brain Project“ und den Vorgängerprojekten FACETS und BrainScaleS entwickelt haben. Foto (bearbeitet, freigestellt): Heiko Weckbrodt

Prof. Christian Mayr von der Technischen Universität Dresden (TUD) mit dem Neurocomputer „NMPM1“ für das „Human Brain Project“. Foto (bearbeitet, freigestellt): Heiko Weckbrodt

Neurotech-Experten, HNO-Ärzte und Mikroelektroniker arbeiten zusammen

Damit sich all dies auf dem neuesten Stand der KI-, Neuro- und Medizintechnik tatsächlich realisieren lässt und in überschaubarer Zeit auch den Weg zu den Menschen findet, hat sich ein interdisziplinäres Team zusammen getan: Das Forschungszentrum „Secure medical microsystems and communications“ (Semeco) am Dresdner Barkhausen-Institut, der Neuromikroelektronik-Professor Christian Georg Mayr von der TU Dresden sowie Prof. Tobias Reichenbach von der Uni Erlangen-Nürnberg kümmern sich darum, dass eine vertrauenswürdige Lösung entsteht, die zügig als medizintechnisches Produkt zugelassen werden kann, steuern die KIs und die Neurotechnologie bei. Prof. Thomas Zahnert vom Uniklinikum Dresden bringt die otologische Expertise ein. Das „Fraunhofer-Institut für elektronische Nanosysteme“ (Enas) sowie die Firma „EDC Engineering“ aus Chemnitz übernehmen das konkrete Design und den Prototypenbau für die geplante Hör-Elektronik. Die Hörgeräte-Firma „MED-EL“ aus Innsbruck könnte die Implantate nach Entwicklungs-Abschluss in die Serienproduktion überführen, wenn sich das System bewährt.

Womöglich zehn Jahre bis zur kompletten Marktreife

Bis zur Marktreife wird allerdings noch einige Zeit vergehen, warnt Dr. Bornitz vor übereilten Hoffnungen: „Zehn Jahre könnte das durchaus dauern“, schätzt er. Allerdings werden Vorstufen-Implantate, die noch nicht sämtliche Funktionalitäten enthalten, früher fertig werden.

Mehr Infos bei „Dr. Zukunft“

-> Wer mehr über dieses und weitere ambitionierte Medizintechnik-Projekte aus Sachsen erfahren will, kann die Ausstellung „Dr. Zukunft“ im Cosmo-Zentrum im Kulturpalast Dresden, Wilsdruffer Straße, jeweils dienstags bis donnerstags von 13 bis 18 Uhr gratis besuchen. Die Ausstellung ist vom 1. Oktober 2024 bis zum 28. Februar 2025 geöffnet.

Autor: Heiko Weckbrodt

Quellen: Semeco, Ausstellung „Dr. Zukunft“, Auskünfte M. Bornewitz, Wikipedia, Oiger-Archiv, Deutscher Schwerhörigenbund

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt