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Sachsens Ingenieure helfen, Europas Eisenbahnen zu digitalisieren

Die Pecs-Work-Chefs Ingolf Sauermann (links) und Karsten Jähnigen zeigen auf einem Tablettrechner, wie das System die automatische Bremsprobe für die Mitarbeiter der Schweizer SBB Cargo visualisiert. Foto: Heiko Weckbrodt

Die Pecs-Work-Chefs Ingolf Sauermann (links) und Karsten Jähnigen zeigen auf einem Tablettrechner, wie das System die automatische Bremsprobe für die Mitarbeiter der Schweizer SBB Cargo visualisiert. Foto: Heiko Weckbrodt

Expertise von „Pecs-Work“ Dresden in der Schweiz gefragt: Nicht die Technologie ist das Problem, sondern die Zulassung

Dresden/Zürich, 24. November 2022. Im Eisenbahnverkehr stehen die Zeichen auf Digitalisierung. Davon ist Geschäftsführer Ingolf Sauermann vom Bahntechnik-Ingenieurbüro „Pecs-Work“ in Dresden-Johannstadt überzeugt. „Wenn wir eine Verkehrswende wollen und die Eisenbahn effizienter und speziell auch in Deutschland pünktlicher machen wollen, dann sind Automatisierung und Digitalisierung die Schlüssel dafür“, argumentiert der Elektrotechnik-Ingenieur. Und eigentlich sollte das ein Leichtes sein: Viele Konzepte, elektronische Systeme, Künstliche Intelligenz (KI) und Sensorik aus der „Industrie 4.0“ lassen sich durchaus auf den Bahnverkehr übertragen. Den Haken daran kennen Sauermann und seine eidgenössischen Geschäftspartner aber allzu gut: „Das größte Hindernis ist gar nicht so sehr die Technologie, sondern vielmehr die Zulassung“, erklärt Christian Schmidt von der Schweizerischen Güterbahngesellschaft „SBB Cargo“.

Eidgenossen setzen auf Hilfe aus dem Freistaat

Denn bei der Eisenbahn hängen noch viel mehr als in einem Industriebetrieb sofort Menschenleben an der Frage, ob neu eingeführte Digitaltechnik funktioniert oder plötzlich versagt. Daher ist hier jede noch so kleine Innovation von aufwendigen Dokumentationen, Zertifizierungen und Genehmigungsverfahren begleitet. Um hier endlich ein Stück voranzukommen, haben sich die Schweizer mit einem Praxisprojekt an die Sachsen gewandt: Gemeinsam haben sie ein neuartiges automatisiertes Bremsproben-System nun bis ins Zulassungsfinale beim Schweizer Bundesamt für Verkehr gelotst – eine Entscheidung erwarten die Partner im kommenden Jahr.

Bremsprobe bedeutet bisher, schier endlose Züge abzulaufen

Das Einsparpotenzial aus diesem Automatisierungsvorhaben ist für die Eidgenossen groß: Bevor nämlich ein frisch gekoppelter Güterzug losfahren darf, ist eine Bremsprobe Pflicht. Und die hat sich seit über 100 Jahren kaum geändert: Der Lokführer löst manuell die Bremsen für alle Güterwagen aus. Ein Arbeiter oder eine Aufsicht läuft dann den ganzen Zug ab und guckt Waggon für Waggon, ob alle Bremsen auch wirklich ausgelöst haben. Und weil solch ein Güterzug gut und gerne 750 Meter lang sein kann, die zweimal abzulaufen sind, bei sengender Hitze ebenso wie im strömenden Regen, ist das keine allzu beliebte Aufgabe. „Das kann – je nach Zuglänge – 20 Minuten dauern oder auch doppelt so lange“, erzählt Christian Schmidt, der das Automatisierungsprojekt von Zürich aus leitet.

Täglich bis zu 500 Bremsproben in der Schweiz

Deshalb ließ sich „SBB Cargo“ von einem Technologiepartner ein System an ausgewählten Güterwagen installieren, das mit verschiedenen Sensoren automatisch die Resultate der Bremsprobe erkennt, digital aufbereitet sowie visualisiert und dann per Funk an den Tabletrechner der Aufsicht oder direkt in den Lokführerstand sendet. „Bei Tests konnten wir die Bremsproben dadurch auf etwa sechs Minuten verkürzen“, berichtet Schmidt. Und bei bisher durchschnittlich 20 bis 25 Minuten Dauer pro Test und rund 400 bis 500 Bremsproben tagtäglich im ganzen Land, könnten die Eisenbahnen in der Schweiz mit solch einem System jedes Jahr über 35.000 Arbeitsstunden sparen. Die dafür bisher gebundenen Eisenbahner könnten andere Aufgaben übernehmen. Und die gesparte Zeit ließe sich wiederum in pünktlichere Züge oder ein besser ausgelastetes Güterschienennetz ummünzen.

Zulassung nähert sich der Ziellinie

„Allerdings haben wir als Bahnunternehmen zwar Erfahrungen mit Bahnbetrieb und Wartung, aber kaum mit Forschung und Entwicklung“, räumt Projektleiter Schmidt ein. Und dafür habe sich „SBB Cargo“ eben die Expertise der Sachsen an Bord geholt – mit Erfolg: Die Dresdner „Pecs-Work“ half den Schweizern bei Dokumentationen, Zertifizierungs- und Zulassungs-Vorbereitungen und der Entwicklungsorganisation. „Inzwischen ist das Projekt zu 95 Prozent vollendet“, schätzt der Geschäftsführer.

Erstes Entwicklungsprojekt zielte auf Diesel-Strom-Hybridfahrzeug

Pecs-Work war 2017 als Ingenieurbüro in Dresden entstanden. Sauermann spezialisierte sich darauf, komplexe Entwicklungsprojekte in der Bahntechnik zu organisieren und zu betreuen. Zu den ersten Projekten gehörte ein gemeinsames Vorhaben mit Deutscher Bahn und TU Dresden. Die Partner entwickelten damals ein hybrides Schienenfahrzeug, das mit Diesel und mit Strom fahren kann. Weitere Forschungs- und Entwicklungsprojekte folgten. Immer deutlich wurde aber, dass Innovationen allein mit neuen mechanischen oder elektrischen Konzepten an Grenzen stoßen. „Daher bauen wir nun ein neues Geschäftsfeld ,Rail Digitaliziation’ auf“, erzählt der Chef. Er hat dafür mit dem Cybersicherheits-Experten Karsten Jähnigen einen zweiten Geschäftsführer an Bord geholt. „In dem Maße, wie Informationstechnologien im Schienenverkehr Einzug halten, spielen Digitalisierung und speziell auch die Cybersecurity eine wachsende Rolle bei Entwicklungsprojekten und Zulassungen“, betont Jähnigen, der dieses neue Geschäftsfeld nun schrittweise aufbaut.

Stephen Walther von der SIB (links), die Pecs-Work-Chefs Ingolf Sauermann und Karsten Jähnigen sowie Christian Schmidt von der SBB Cargo (rechts) zeigen auf einem Tablettrechner, wie das System die automatische Bremsprobe für die Mitarbeiter der Schweizer SBB Cargo visualisiert. Foto: Heiko Weckbrodt

Stephen Walther von der SIB (links), die Pecs-Work-Chefs Ingolf Sauermann und Karsten Jähnigen sowie Christian Schmidt von der SBB Cargo (rechts) zeigen auf einem Tablettrechner, wie das System die automatische Bremsprobe für die Mitarbeiter der Schweizer SBB Cargo visualisiert. Foto: Heiko Weckbrodt

Sparkassen-Tochter steuert Kapital für Wachstumssprung bei

Um dieses Trendthema rasch zu besetzen und den neuen Markt dahinter zu beackern, brauchen die Dresdner Ingenieure aber mehr Geld, als sie durch organisches Wachstum in den nächsten Jahren wohl werden erwirtschaften können – das wurde Sauermann und Jähnigen bald klar. Deshalb haben sie sich nun die „SIB Innovations- und Beteiligungsgesellschaft“ aus Dresden als stillen Teilhaber und Kapitalgeber ins Boot geholt. Mit den 300.000 Euro Wagnis- und Wachstumskapital von der Dresdner Sparkassentochter soll das bisher vierköpfige Team in den nächsten fünf Jahren auf etwa 50 Beschäftigte wachsen.

Dresdner wollen digitale Kupplung für Europas Eisenbahnen mitentwickeln

Mit dieser Expertise unter einem Dach will „Pecs-Work“ dann weitere Digitalisierungs-Projekte für die „Bahn 4.0“ starten. Und auch bei den ganz großen Vorhaben wollen Sauermann und Jähningen dann mitmischen. Zum Beispiel laborieren Eisenbahnen und Bahntechnik-Hersteller schon seit Jahren an einer vollautomatischen Kupplung für letztlich alle Waggons in Europa herum: Diese Technik soll es künftig erlauben, Züge vollautomatisch zusammenzustellen und wieder zu trennen – und die Auslastung und Pünktlichkeit des Bahnverkehrs auf dem ganzen Kontinent deutlich verbessern. Und die beteiligten Zulieferer beäugen schon jetzt mit großen Interesse, wie es die Sachsen und Schweizer geschafft haben, das neue automatische Bremsprobensystem über die Zulassungshürden zu hieven. An der automatischen digitalen Kupplung Europas wird „Pecs-Work“ daher auf jeden Fall beteiligt sein. Sauermann: „Da sind wir mit im Boot.“

Autor: Heiko Weckbrodt

Quellen: Pecs-Work, SBB Cargo, SIB

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt