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IfW Kiel: Ostdeutschland holt Westen vor 2080 nicht ein

Am stärksten wirkte der Bevölkerungsschwund in Sachsen-Anhalt. In einer Art Reallabor wird man in den nächsten Jahren wohl beobachten können, ob die Intel-Ansiedlung in Magdeburg für demografische Effekte sorgt. Grafik: IfW Kiel

Am stärksten wirkte der Bevölkerungsschwund in Sachsen-Anhalt. In einer Art Reallabor wird man in den nächsten Jahren wohl beobachten können, ob die Intel-Ansiedlung in Magdeburg für demografische Effekte sorgt. Grafik: IfW Kiel

Ökonom: Überalterung bremst Wirtschaft im Osten immer mehr aus

Kiel, 21. März 2022. Wenn die ostdeutsche Wirtschaft weiter so langsam wächst wie in jüngster Zeit, wird es noch 40 Jahre dauern, bis sich die ostdeutschen Einkommen ans Westniveau angeglichen haben. Sogar 60 Jahre wird es demnach dauern, bis die westdeutsche Arbeitsproduktivität erreicht hat. Das hat das Institut für Weltwirtschaft in Kiel (IfW) für den Thüringer Landtag errechnet. Ähnlich hatte sich in der Vergangenheit auch schon das Ifo-Institut in Dresden geäußert, bis hin zur Prognose, der Osten werde den Westen nie einholen.

Anschluss schon verloren

Laut der IfW-Studie verliert die ostdeutsche Wirtschaft bereits seit Mitte des letzten Jahrzehnts zunehmend den Anschluss an den Rest von Deutschland. Ein Hauptgrund sei die Überalterung der Bevölkerung im Osten. Während die ostdeutsche Bevölkerung kurz nach der Wende noch deutlich jünger als die westdeutsche war, hat sich dieses Verhältnis rasch umgedreht. Wegen der Massenentlassungen, der niedrigen Löhne und scheinbaren Perspektivlosigkeit im Osten verschoben viele Paare ihre Kinderwünsche. Vor allem aber wanderten viele Jüngere – darunter auch viele junge Frauen – in den Westen ab. In der Folge sanken die Geburtenraten, was eine demografische Abwärtsspirale in Gang setzte.

Sachsen hat seit der Wende 13 % seiner Bevölkerung verloren

Zwischen der Wiedervereinigung 1991 und dem Vor-Corona-Jahr 2019 hat beispielsweise Sachsen 13 Prozent seiner Einwohner verloren. In Thüringen waren es 17 Prozent, Sachsen-Anhalt hat sogar 22,3 Prozent seiner Bevölkerung verloren, während die meisten alten Bundesländer teilweise kräftige Zuwächse erlebten.

Seit einigen Jahren machen die ostdeutschen Bundesländer bei der Wirtschaftsleistung pro Kopf kaum noch Boden zum Westen gut. Grafik: IfW Kiel

Seit einigen Jahren machen die ostdeutschen Bundesländer bei der Wirtschaftsleistung pro Kopf kaum noch Boden zum Westen gut. Grafik: IfW Kiel

Sachsen bei Arbeitsproduktivität auf Rang 12, Thüringen auf Platz 14

Die Folgen für den Osten: „Die Wirtschaftsleistung sinkt, die Innovationskraft nimmt ab, die Gründungsdynamik erlahmt, und der ohnehin bereits gravierende Fachkräftemangel nimmt noch weiter zu“, heißt es in einer Studienzusammenfassung des IfW. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sei beispielsweise in Thüringen zwischen 2015 und 2019 um 4,4 Prozentpunkte langsamer gewachsen als im Bundesdurchschnitt. In puncto Arbeitsproduktivität hat sich bisher Sachsen am weitesten an den Westen herangearbeitet und liegt im bundesweiten Vergleich seit einigen Jahren auf Platz 12, gefolgt von Brandenburg und Thüringen.

Osten macht demografischen Wandel im Zeitraffer durch – Westen folgt später

Dieser demografische Wandel und die daraus erwachsenden Wirtschaftsprobleme werden allerdings auch den Westen erreichen – wenn auch einige Jahre später, prognostizieren die Kieler Ökonomen. In Ostdeutschland könne man schon jetzt die ökonomischen Folgen einer rasch alternden Bevölkerung, „die in wenigen Jahren auch im Westen spürbar sein werden, wie in einem Brennglas beobachten“, betonte IfW-Forscher Dirk Dohse.

Weniger Gründungsfieber und Innovationskraft

Die Folgen von Ostdeutschlands Überalterung werden im laufenden Jahrzehnt noch gravierender zu Tage treten und die Wirtschaft weiter belasten, betonen die Forscher. Zu erwarten sei, dass viele ostdeutsche Unternehmen mehr und mehr Aufträge ablehnen müssen, weil sie nicht genug Leute haben, um sie abzuarbeiten. Und wenn junge Menschen fehlen, bremst dies erfahrungsgemäß auch Gründungsfieber und Innovationskraft in einer Region aus.

Ökonom plädiert für Änderung der Wirtschaftspolitik

In der Konsequenz plädiert Studienautor Dohse für einen Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik: „Da die Nachfrage das Angebot an qualifizierten Arbeitskräften in Thüringen übersteigt, wird die Schaffung oder der Erhalt von Arbeitsplätzen, der in der Vergangenheit zahlreiche Fördermaßnahmen motiviert hat, dagegen obsolet“, argumentierte er. „Wir brauchen einen grundlegenden Kurswechsel in der Förderpolitik, weg vom Erhalt von Arbeitsplätzen und hin zur Anziehung von Arbeitskräften.“ Und: „Vornehmlich gefördert werden sollten Investitionen, die den Strukturwandel voranbringen und zu einer nachhaltigen Steigerung der Produktivität der Unternehmen beitragen, etwa durch arbeitssparende (digitale) Technologien.“

Die Visualisierung zeigt den Eingangsbereich der geplanten Intel-Doppelfabrik in Magdeburg. Grafik: Intel

IfW-Autor Dirk Dohse rät von der Akquise von Großansiedlungen – hier die Visualisierung der geplanten Intel-Doppelfabrik in Magdeburg – zu Gunsten der Zuwanderungs-Förderung ab. Möglich wäre aber auch genau der gegenteilige Effekt: Attraktive Jobs sorgen oft auch erst für Zuwanderung in eine Region. Grafik: Intel

Zuwanderung und Hyperautomatisierung könnten Fachkräftemangel entspannen

Allerdings gibt es auch andere Stimmen. Demnach sei die Akquise neuer Großansiedlungen sehr wohl sinnvoll, weil neue attraktive Arbeitsplätze erfahrungsgemäß für mehr Zuzug auch aus dem Ausland sorgen – der dann allerdings auch entsprechend gefördert und unterstützt werden muss. Zudem kann neben qualifizierter Zuwanderung womöglich auch der Trend zur Hyperautomatisierung einen Teil des Arbeitskräfteschwundes ausgleichen – und zwar selbst in Branchen, in denen bisher Roboter und digitale Geschäftsprozesse selten anzutreffen sind.

Autor: Heiko Weckbrodt

Quellen: IfW Kiel, Oiger-Archiv

Wissenschaftliche Publikation:

Frank Bickenbach, Eckhardt Bode, Dirk Dohse, Sophia Fehrenbacher, Robert Gold, Ulrich Stolzenburg, Julian Vehrke „Digitalisierung. Dekarbonisierung. Demografie. Wandel gestalten: Mittelstandsbericht Thüringen 2020“, Kieler Beiträge zur Wirtschaftspolitik, 39, März 2022

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt