„Radikalisierungsprozesse finden häufig mit Bezug auf eine als feindlich markierte Gegengruppe statt“
Leipzig, 30. Juni 2024. Muslime und Nicht-Muslime in Deutschland radikalisieren sich an gegenseitigen Feindbildern, aber auch an Stereotypen, die sie aus familiären Überlieferungen oder Schulbüchern verinnerlicht haben. Das hat eine gemeinsame Studie „Radikaler Islam versus radikaler Anti-Islam“ (Rira) der Unis Duisburg-Essen, Leipzig und Osnabrück sowie vom Leibniz-Institut für Bildungsmedien Braunschweig ergeben. In den Auseinandersetzungen scheine es immer mehr um „gut“ und „böse“ zu gehen als um Fakten, hieß es bei einer Präsentation in Leipzig.
Antidemokratische Einstellungen befeuern Polarisierung zusätzlich
„Die Radikalisierungsprozesse finden häufig mit Bezug auf eine als feindlich markierte Gegengruppe statt“, schätzt Politikwissenschaftlerin und Rira-Leiterin Prof. Susanne Pickel von der Uni Duisburg-Essen ein. „Die Etablierung antidemokratischer Einstellungen in der Gesellschaft befeuert die Radikalisierungsprozesse zusätzlich.“
Studie stützt sich auf Umfrage, Interviews, Schulbuchanalysen und Lehrerauskünfte
In ihren Befunden stützen sich die Autorinnen und Autoren der Studie auf eine Umfrage unter 2505 Frauen und Männern, darunter 607 Muslime und Musliminnen. Außerdem haben sie Gruppendiskussionen ausgewertet, Schulbücher analysiert, 405 Lehrer und Lehrerinnen befragt und Häftlinge befragt.
37 % der befragten Muslime hängen einem religiösen Fundamentalismus an
Bei 37 Prozent der befragten Muslime diagnostizierten die Forscherteams religiösen Fundamentalismus und bei 39 Prozent überlieferten Antisemitismus. 55 Prozent berichteten, sie seien wenigstens schon einmal diskriminiert worden. „Musliminnen reagieren auf Entwicklungen im rechten Spektrum und sehen sich als Opfer der deutschen Gesellschaft“, erklärt Religionssoziologe Prof. Gert Pickel von der Uni Leipzig. „Die Radikalisierung wird durch Bedrohungserfahrungen, radikalisierte soziale Netzwerke und Narrative der Gewaltakzeptanz befördert“, ergänzt Projektleiterin Susanne Pickel.
Bedrohungsgefühl verstärkt Radikalisierung
Nährboden für eine Radikalisierung zum Rechtsextremismus bei Nicht-Muslimen sei eine Angst vor Musliminnen bei der Hälfte der Befragten gewesen „Es zeigt sich deutlich, dass Radikalisierungsprozesse nicht erst beginnen, wenn Anschläge stattfinden“, meint Gert Pickel. „Die Saat wird bereits weitaus früher gelegt und geht dann in vielfältiger Weise als Ablehnung gegenüber Muslimen auf. Gerade wenn man sich von einer bestimmten Gruppe bedroht fühlt, wächst die Gefahr der Radikalisierung.“
Abgleiten in Gewalt lässt sich stoppen
Solche Radikalisierungsprozesse lassen sich aber stoppen – und münden nicht automatisch in Gewalt, sind die Forscher überzeugt. „Im Forschungsprojekt wurden Demokratiestunden an Schulen etabliert, die für eine Deeskalation von potenziellen Radikalisierungsansätzen sorgen“, heißt es von den Rira-Teams. „Ein differenziertes, integratives Lehrmaterial mit persönlicher Ansprache der Schülerinnen, zum Beispiel Podcasts über Muslime in Ostdeutschland, trage dazu bei, eine Radikalisierung im optimalen Fall gar nicht erst entstehen zu lassen.“
Autor: Oiger
Quelle: Uni Leipzig
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