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Schuhmacher werden zu Universalisten

Meister Sven Berneis an seiner Computerfräse, die automatisch maßgeschneiderte Schuheinlagen nach CAD-Modellen fertigt. Foto: Heiko Weckbrodt

Meister Sven Berneis an seiner Computerfräse, die automatisch maßgeschneiderte Schuheinlagen nach CAD-Modellen fertigt. Foto: Heiko Weckbrodt

Mit orthopädischen Schuhen wurde Sven Berneis einst Meister – heute kümmert sich sein Handwerksbetrieb auch um Dynamo-Orthesen, Ersatz-Arme für kleine Elfen, Narbentherapie und 3D-Druck

Dresden, 20. Oktober 2022. Der Knochen ist aus Stahl, die Haut ist aus rosa Kunststoff und mit einer Elfe verziert. „Der ist für ein Mädchen mit einem verkümmerten Arm“, wiegt Sven Berneis die Prothese in seiner Hand. „Damit wird es endlich Fahrradfahren können.“ Versonnen legt der Meister den künstlichen Arm in sein Regal für artifizielle Gliedmaßen zurück. „Mit Kindern zu arbeiten, ist immer eine besondere Herausforderung“, sagt der 55-Jährige. „Wenn sie die Prothese nicht für sich annehmen, dann wird das einfach nichts.“

Handwerkliches Spektrum ausgeweitet

Die kleinen Kinderarm-Prothesen in Rosa und Türkis in der lichtdurchfluteten Werkstatt im Dresdner Osten stehen archetypisch dafür, wie sehr sich für Meister Berneis und seine ganze Zunft das Alltagshandwerk in den drei, vier vergangenen Dekaden verändert hat: vom DDR-Schuhmacher, der Absätze auf kaputte Schuhe hämmert, bis hin zu einem Universalisten, der mit Hightech-Anlagen und manuellem Geschick orthopädische Schuhe und haltungsstabilisierenden Schuh-Einlagen ebenso herstellt, anpasst und verkauft wie Rollatoren, Narbenkompression, Orthesen oder eben künstliche Arme und Beine.

Rat vom alten Meister: Kundenwünsche ins Zentrum stellen

Noch gut kann sich Sven Berneis an die Zeit vor der Wende erinnern, als er sein Handwerk in einer kleinen Orthopädie-Schuhmacherei in Coswig bei Dresden lernte. Das war in der Gegend einer der wenigen Privat-Betriebe, die Erich Honeckers finale Verstaatlichungswelle Anfang der 1970er Jahre überstanden hatten, und deren Meister und Gesellen sich ständig die Hacken nach vernünftigem Ledern und Farben jenseits des staatswirtschaftlichen Einerleis abliefen. Schon damals schärfte der alte Orthopädie-Schuhmacher dem Gesellen Berneis immer wieder ein, wie wichtig es sei, sich von der Konkurrenz abzuheben, auf die Kunden einzugehen und deren Wünsche zu erfüllen, wann immer es irgendwie geht.

Orthopädie-Schumacherin Sabine Berger schneidet in der Berneis-Werkstatt in Dresden Leder für einen Schuh zu. Foto: Heiko Weckbrodt

Orthopädie-Schumacherin Sabine Berger schneidet in der Berneis-Werkstatt in Dresden Leder für einen Schuh zu. Foto: Heiko Weckbrodt

„Eine schwere, aber auch spannende Zeit“

Diese Denkweise half dem Sohn einer Schuhmacher-Dynastie auch, als die Eltern kurz nach der Wende ihr erstes eigenes Geschäft eröffneten: 25 Quadratmeter Werkstatt und Laden an der Grillenburger Straße im Dresdner Westen. Als er den Meisterbrief für Orthopädie-Schuhmacherei in der Tasche hatte, stieg dort der Junior ein. „Das war eine schwere, aber auch spannende Zeit“, erinnert sich Sven Berneis an die unternehmerischen Anfangsjahre. „Ich habe den Orthopädie-Bereich mit aufgebaut und war ständig im Kontakt mit Ärzten und Patienten. Gleichzeitig mussten wir viel Geld in neue Maschinen investieren, um uns auf den neuesten Stand zu bringen.“

Hausbesuch vom Schuhmacher

Von Anfang an habe das ganze Geschäftskonzept darauf basiert, den Kunden und dessen Wünsche ins Zentrum zu stellen: „Wir haben kundenfreundliche Öffnungszeiten eingeführt und zum Beispiel die Mittagsschließzeit abgeschafft. Oft haben wir den Leuten die Schuhe auch nach Hause gebracht. Es war uns wichtig, immer ein bisschen besser, hochwertiger und kundenfreundlicher zu arbeiten als die anderen.“

Auch traditionelles Handwerk spielt in der Berneis-Werkstatt neben moderner Technik weiter eine große Rolle. Hier bearbeitet Yerokhin Vladyslav, der aus der Ukraine nach Dresden gekommen ist, gerade einen Absatz. Foto: Heiko Weckbrodt

Auch traditionelles Handwerk spielt in der Berneis-Werkstatt neben moderner Technik weiter eine große Rolle. Hier bearbeitet Yerokhin Vladyslav, der aus der Ukraine nach Dresden gekommen ist, gerade einen Absatz. Foto: Heiko Weckbrodt

Neuer Standort im Dresden Osten zur Zentrale gewachsen

Und an den Kundenwünschen wuchsen Umsätze, Ladenfläche und Belegschaft: Ab 1997 baute Berneis einen zweiten, größeren Standort im Dresdner Osten auf. Rund 2,5 Millionen Euro hat die Familie seitdem in die Ladenflächen, Werkstätten und Büros an der Liebstädter Straße investiert. Auf fünf Millionen Euro Jahresumsatz kommt der Handwerksbetrieb mittlerweile. Heute beschäftigt Berneis rund 70 Menschen an sieben Standorten in Dresden und neuerdings in Dippoldiswalde.

Sortiment von Sanitätshäusern ins Repertoire aufgenommen

Parallel dazu weitete sich immer mehr das Sortiment aus: Machte sich Berneis anfangs vor allem mit schicken orthopädischen Schuhen, fußgerechten Schuhen, Einlagen und besonderem Kundendienst einen Namen, kamen dann nach und nach Rollatoren, Bandagen, Gehstöcke und Kompressionsstrümpfe ins Repertoire. Dieses Heil- und Hilfsmittelsortiment, die sonst eigentlich eher Sanitätshäuser führen, baute vor allem Sven Berneis Ehefrau Karen auf.

Von der bunten Kinder-Prothese bis zur Dynamo-Orthese

Seit 2012 fertigt das Unternehmen außerdem individuelle Prothesen und Orthesen und erfüllt dabei gelegentlich Herzenswünsche. Denn für die Patienten sollen diese Ersatzgliedmaßen und Stützen zeitweise oder dauerhaft ein Teil des eigenen Körpers werden, sie bestimmen ihr Ich-Gefühl wesentlich mit. Deshalb fertigt das Berneis-Team beispielsweise die erwähnten bunten Prothesen für Kinder, aber auch Sondereditionen für Fußballfans, die unbedingt das Emblem ihrer Lieblingsmannschaft auf der Orthese tragen wollen. „Wir haben da schon Dynamo- und BVB-Orthesen gemacht“, erzählt Karen Berneis. Erst jüngst entwickelten die Handwerker auf Wunsch einer jungen Kundin eine Orthese mit Leuchtdioden.

Narbentherapie mit Kompressionsanzügen

Die „Schuhmacher 4.0“ helfen heutzutage sogar Patienten mit Schlaganfällen oder schweren Brandnarben, obwohl der Laie solche Aktivitäten in einem einstigen Schuhgeschäft vielleicht gar nicht vermuten würde. Doch von Kompressionsstrümpfen für Venenkranke oder Thrombose-Gefährdete ist es eben gar kein so weiter Weg mehr bis hin zu modernen Narbentherapien: Dabei verhindert ein Kompressionsanzug, dass etwa die Narben verbrühter Kinder zu schnell verhärten, bevor die Selbstheilungskräfte des jungen Körpers wirken. Diese Methode kann Entstellungen fürs Leben wenigstens etwas mindern. Schlaganfallpatienten wiederum profitieren von Fußhebern, Handstreckern und anderen maßgefertigten Hilfsmitteln aus den Berneis-Werkstätten.

Scanner, Computerfräsen und 3D-Drucker ziehen in die Schuhwerkstätten sein

Überhaupt dürfe sich ein Handwerker heute nicht vor Innovationen scheuen, wird Berneis nicht müde zu betonen: Zwar gibt es in der Werkstatt an der Liebstädter Straße auch noch die klassischen Schumacher, darunter Flüchtlinge aus der Ukraine, die ganz traditionell mit Hammer, Ahle und Leisten arbeiten. Andererseits hat Sven Berneis aber auch – als einer der ersten in der Stadt, wie er betont – einen Sportwissenschaftler angeheuert, moderne Scanner und 3D-Fußabdruck-Messgeräte angeschafft, mit denen sich Haltungsschäden und individuelle Bewegungseigenarten analysieren lassen. „Mit Hilfe spezieller Software können wir dann erkennen, ob der Kunde zum Beispiel eine Fehlstellung an Wirbelsäule oder Becken hat“, sagt Sven Berneis. Im nächsten Schritt versuchen er und sein Team, diese Probleme durch spezielle Sohlen oder Keile an den Schuhen zu lindern. Die individualisierten Einlagen stellt der Hightech-Orthopädie-Schuhmacher von heute übrigens mit computergesteuerten Einlage-Fräsen her.

In den 3D-Druck eingestiegen

Neuerdings arbeitet Berneis zudem mit 3D-Drucktechnologien: „Die ersten 3D-Körperscanner sind bereits angeschafft“, berichtet der Meister. Ein Programm erstellt aus den Abtast-Daten automatisch ein Computermodell des Patienten. Ein Auftragsfertiger speist damit schließlich einen 3D-Drucker, der auf dieser Basis besonders passgenaue Orthesen und Schuheinlagen erzeugt. Später will Berneis diese „additive Fertigung“, wie der industrielle 3D-Druck in der Fachsprache heißt, auch selbst realisieren. „Mein Ziel ist es, eine Software und einen 3D-Drucker zu haben, um alles, egal ob Einlage, Orthese, Schuhleisten oder was auch immer, damit selbst herstellen zu können.“

Kurzüberblick

  • Unternehmen: Berneis natürlich-aktiv GmbH
  • Hauptsitz: Dresden
  • Geschäftsfelder: orthopädische sowie fußgerechte Schuhe, Einlagen, Orthesen. Prothesen, podologische und geriatrische Hilfsmittel, Alltagshilfen, Rehabilitationstechnik et cetera
  • Gründung: Oktober 1990
  • Belegschaft: 70 Beschäftigte
  • Umsatz: fünf Millionen Euro
  • Weitere Infos im Netz: berneis.net

Autor: Heiko Weckbrodt

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt