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Umweltökonom: Industrie 4.0 entkoppelt Mensch von realer Welt

Bosch entwickelt "Industrie 4.0"-Lösungen - und will deren Konzepte auch in der eigenen Chipfabrik in Dresden einsetzen. Foto: Bosch

Wie der deutsche Technologiekonzern Bosch arbeiten viele forschungslastige Unternehmen an „Industrie 4.0“-Lösungen. Die gesellschatlichen Folgen dieser vierten industriellen Revolution sind noch kaum überschaubar.  Foto: Bosch

Kontakte zu Mensch und Natur virtualisieren sich immer mehr, warnt der Buddhist

Brisbane, 5. Mai 2020. Die Digitalisierung der Gesellschaft und die vierte industrielle Revolution versprechen zwar einen höheren Lebensstandard, mehr Wohlstand und eine vernetzte Welt. Zugleich riskieren die Menschen sich dabei von ihrer natürlichen Umwelt und ihren Mitmenschen weiter zu entkoppeln, warnt der buddhistische Umweltökonom Dr. Peter Daniels von der australischen Griffith-Universität aus Brisbane.

Auch auf der Arbeit wächst Bedeutung einer digital vermittelten Umwelt

Dieses Risiko resultiere insbesondere aus der wachsenden Virtualisierung direkter menschlicher und natürlicher Kontakte, argumentiert Daniels in dem Aufsatz „The 4th Industrial Revolution – A Buddhist Perspective for sustainable Societies and Wellbeing“. Er denkt dabei nicht nur an die wachsende Nutzung solcher Kontaktnetzwerke wie Facebook Youtube, Tinder, Tiktok & Co., sondern auch an Augmented Reality (AR), Virtual Reality (VR), „digitale Zwillinge“ und andere wirtschaftsnahe Virtualisierungs-Techniken. Zudem werde die „Industrie 4.0” die Spaltung des Arbeitsmarktes in sehr hoch qualifizierte und sehr niedrig qualifizierte Jobs vertiefen – mit wenig Arbeitsgelegenheiten dazwischen für die Mittelklasse.

Autor empfiehlt buddhistische Weisheiten

Wie es der Aufsatztitel schon erahnen lässt, fordert der Autor nicht eine Abkehr von Digitalisierung und Industrie 4.0, sondern eine buddhistische Evaluierung der damit verbundenen Ziele und Weichenstellungen: „Buddhistische Weisheit kann beispielsweise das ökologische und nachhaltige Potenzial der vierten industriellen Revolution und der damit assoziierten Technologien unterstützen“ und Chancen bieten, diese neuen technologisch-ökonomischen Paradigmen für mehr Glück und Frieden in der Gesellschaft einzuspannen, meint der Umweltökonom.

Ganz andere Definition von „Industrie 4.0“ als in Deutschland

Daniels Sicht auf die vierte industrielle Revolution ist insofern eine weltanschaulich geprägte Perspektive, die nicht jeder teilen wird. Zu bedenken ist ferner, dass der Australier von einer ganz anderen Definition der „Industrie 4.0“ ausgeht: Er versteht darunter eine Fusion von physischer und digitaler Welt – was in Deutschland eher als „Digitalisierung“, „Vernetzung“ und „Virtualisierung“ beschrieben wird, eine „Einbettung“ des biologischen Menschen in technologische Vorgänge sowie eine organische Weiterentwicklung der Industrialisierung.

Deutsche Definition fokussiert sich auf vernetzte, hochautomatische und dezentral organisierte Produktion

In Deutschland dagegen, das immerhin als Erfinder des „Industrie 4.0“-Konzepts gilt, verstehen viele Wirtschaftswissenschaftler und -politiker darunter einen Wandel von Industrie und angekoppelten Wirtschaftssektoren hin zu hochautomatisierten, teils auch recht kleinen Fabriken. In diesen Produktionszentren sind demnach Werkstücke, Maschinen, Roboter, Arbeiter, aber auch Zulieferer und Abnehmer flexibel vernetzt und treffen dezentral optimierte Entscheidungen über die Fertigungsabläufe. Verbunden sind damit aus deutscher Perspektive meist mehrere Ziele, die allerdings von einem „Experten“ zum nächsten oft auch recht stark variieren: Ganz vorne steht die Fähigkeit von „Industrie 4.0“-Fabriken, auch Einzelstücke (Losgröße 1) noch profitabel herstellen zu können sowie die Hoffnung auf einen erheblichen Produktivitätssprung. Manche verbinden damit auch solche Ziele wie eine Rückkehr der Industrieproduktion nach Europa und in die Städte sowie eine dezentrale industrielle Fertigung mit sehr geringen Auswirkungen auf die Umwelt.

Viel Zivilisationskritik hineingepackt

Angesichts der starken Definitions-Unterschiede hier wie dort wundert es dann auch kaum, , dass Daniels in seine Betrachtung viel generelle Industrie- und Zivilisationskritik hineinpackt: Der Australier kritisiert beispielsweise den gesunden Lebensstil, die Entfremdung des Menschen von der Natur, Bewegungsmangel, wachsende Ungleichheit , sensorische Überlastung und andere Trends, die nach die nach deutscher Definition speziell mit der „Industrie 4.0“ wenig zu tun haben, sondern generell seit der ersten industriellen Revolution und vor allem dem Siegeszug der Computer diskutiert werden.

Repro (hw) der Buchhülle von: “Buddhism and the Fourth Industrial Revolution”, herausgegeben von Thich Nhat Tu und Thich Duc Thien, Vietnam Buddhist University Series, Ho-Chi-Minh-Stadt 2019

Repro (hw) der Buchhülle von: “Buddhism and the Fourth Industrial Revolution”, herausgegeben von Thich Nhat Tu und Thich Duc Thien, Vietnam Buddhist University Series, Ho-Chi-Minh-Stadt 2019

Zentrale These: 4. Industrielle Revolution hebt Lebensstandard – aber macht nicht automatisch glücklicher

Eine zentrale Annahme von Daniels indes werden wohl viele unterschreiben: Die vierte industrielle Revolution werde die Menschen nicht automatisch auch glücklicher machen, sondern einen tief greifenden sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und ökologische Wandel verstärken, der schon vorher eingesetzt hat. Ob die von ihm empfohlenen buddhistischen Weisheiten und Techniken dafür bereits geeignete Antworten parat haben, mag wiederum Anschauungssache sein.

Autor: Heiko Weckbrodt

Quelle: Dr. Peter Daniels: „The 4th Industrial Revolution – A Buddhist Perspective for sustainable Socienetes and Wellbeing“, in: “Buddhism and the Fourth Industrial Revolution”, herausgegeben von Thich Nhat Tu und Thich Duc Thien, Vietnam Buddhist University Series, Ho-Chi-Minh-Stadt 2019, ISBN 978-604-89-7929-4, gratis als PDF hier zu finden.

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt