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Ein Multiorgan-Chip hilft den Tieren

Ein Multiorganchip Kammern für die Leber- ider Nierenzellen, Zuleitungen für die zut testenden Arzneien oder Kosmetika, Pumpen, Ventile und dergleichen mehr. Sie simulieren komplexe menschliche Organe. Abbildung: Fraunhofer IWS

Ein Multiorganchip Kammern für die Leber- ider Nierenzellen, Zuleitungen für die zut testenden Arzneien oder Kosmetika, Pumpen, Ventile und dergleichen mehr. Sie simulieren komplexe menschliche Organe. Abbildung: Fraunhofer IWS

Eine Innovation von Fraunhofer Dresden hilft schon heute, viele Tierversuche zu vermeiden

Dresden, 13. März 2020. Fraunhofer-Forscher aus Dresden haben einen Multiorgan-Chip entwickelt, der das Leben vieler Tiere retten und ihnen Leid ersparen soll. Durch diese winzigen Geräte, die menschliche Organe simulieren können, fallen bereits jetzt viele Tierversuche bei Pharma- und Kosmetikkonzernen weg. Künftig dürfte diese Innovation noch mehr Mäuse und Affen schonen.

Vision: Künftig auch komplette Lebern und Nieren für kranke Menschen züchten

Und perspektivisch wollen die Entwickler damit sogar eine kleine medizinische Revolution für den Menschen auslösen: „Wenn man einmal verstanden hat, wie sich komplexe Organstrukturen aufbauen lassen, ist der nächste logische Schritt, komplette Nieren, Lebern und andere Ersatzorgane für kranke Menschen im Labor zu züchten“, erklärte Biotechnologie-Ingenieur Florian Schmieder vom Fraunhofer-Institut für Werkstoff- und Strahltechnik (IWS) Dresden die Zukunftsvision der Forscher. Bis dahin werde allerdings noch einige Zeit vergehen – zehn bis 20 Jahre bestimmt, schätzt der Mitentwickler des Multiorgan-Chips.

Auf dem Multiorgan-Chip simulieren mehrere technische Komponenten das Zusammenspiel von Blutkreislauf und Organen im menschlichen Körper. Dazu gehören eine Pumpe (1), eine Speicherkammer für Blut und Wirkstoff (2), Kammern für Organe und Gewebe (3) sowie Ventile (4), die den unterschiedlich starken Blutzufluss zu verschiedenen Organen nachbilden. Grafik_ Fraunhofer IWS Dresden

Auf dem Multiorgan-Chip simulieren mehrere technische Komponenten das Zusammenspiel von Blutkreislauf und Organen im menschlichen Körper. Dazu gehören eine Pumpe (1), eine Speicherkammer für Blut und Wirkstoff (2), Kammern für Organe und Gewebe (3) sowie Ventile (4), die den unterschiedlich starken Blutzufluss zu verschiedenen Organen nachbilden. Grafik: Fraunhofer IWS Dresden

Vor zehn Jahren in Organchip-Technologie eingestiegen

Die Dresdner Forscher haben über zehn Jahre Erfahrung mit dem Entwurf von Chips, die Tierversuche vermeiden. 2009 hatten IWS-Ingenieure begonnen, erste Mikrolabore zu entwerfen, die den Stoffwechsel und die Blutflüsse in menschlichen Organen nachbilden. Seitdem haben sie diese winzigen Geräte weiter verfeinert und immer komplexer konstruiert. Mittlerweile können sie verschiedene Blutflüsse und Zellstrukturen parallel zueinander steuern und ausmessen, wie die im Chip eingebetteten Organzellen beispielsweise auf ein Diabetes-Medikament oder eine neue Hautcreme reagieren. Damit kommt der Multiorgan-Chip der Arbeitsweise einer richtigen Niere oder Leber immer näher.

Multiorgan-Chip mit Pumpen und Ventilen (kleine rote Punkte) sowie den Kammern für Organe, Gewebe, Blut und Wirkstoffe. Foto: Fraunhofer IWS Dresden

Multiorgan-Chip mit Pumpen und Ventilen (kleine rote Punkte) sowie den Kammern für Organe, Gewebe, Blut und Wirkstoffe.
Foto: Fraunhofer IWS Dresden

Wie entsteht ein Multiorgan-Chip?

Um solche anspruchsvollen Simulatoren zu erzeugen, stapeln die Fraunhofer-Experten mehrere Ebenen übereinander. Mit einem Laser schneiden sie in Kunststoff-Folien die späteren Blutbahnen, die Kammern für Organzellen und andere Funktionselemente hinein. Diese Folien stapeln sie dann übereinander, verbinden sie und ergänzen sie um Sensoren, Ventile, Pumpen, Anschlüsse, Stoffaustauscher und Steuerelektronik. Der so zusammengefügte Multiorgan-Chip misst etwa drei mal zehn Zentimeter, ist also etwa so groß wie eine Tablettenschachtel.

Ingenieure rüsten Chips nun mit KI und Echtzeit-Bildverarbeitung auf

Inzwischen pflanzen die Ingenieure ihrem Chip auch immer mehr „Künstliche Intelligenz“ und Analyse-Sensoren ein. „Früher musste man die Organzellen irgendwann aus dem Chip herausnehmen und sie im Labor mit Mikroskopen untersuchen“, nennt Florian Schmieder ein Beispiel für solche Weiterentwicklungen. „Derzeit arbeiten wir an einer Echtzeit-Bildauswertung, so dass man die Zellen gar nicht mehr aus dem Chip herausnehmen muss.“

Auftragsforscher setzen Technologie aus Dresden bereits ein

Der Chip aus Sachsen erfreut sich in Industrie und an Universitäten bereits einiger Beliebtheit. Allerdings setzen nicht die Branchenriesen selbst, sondern meist hochspezialisierte Auftrags-Forschungsfirmen die Multiorganchips ein. Sie testen damit für die Konzerne neue Kosmetika und Arzneien, beispielsweise Gliflozine, die bei Diabeteskranken den Zuckerhaushalt stabilisieren.

„Eine Maus ist kein 15-Gramm-Mensch“

„Unsere Multiorganchips einzusetzen, hat für die Auftraggeber mehrere Vorteile“, erklärte Florian Schmieder. Einerseits möchten viele Pharma- und Kosmetikkonzerne ihren Ruf verbessern, indem sie Maus und Co. nicht mehr leiden lassen. Auch werden Tierversuche durch EU-Auflagen und nationale Gesetze ohnehin immer teurer. Generelle Verbote sind in naher Zukunft absehbar. Und oft genug seien die Chiplösungen wissenschaftlich sinnvoller als Tierversuche, schätzt der Biotechnologe ein. „Eine Maus ist nun mal kein 15-Gramm-Mensch. Tierische Organe sind teilweise anders aufgebaut als menschliche Organe, der Stoffwechsel unterscheidet sich teils deutlich. Mit unseren Chips bekommen die Entwickler in vielen Fällen aussagekräftigere Ergebnisse als bei Tierversuchen.“

Über 2 Millionen Versuchstiere in Deutschland

Im Jahr 2018 setzten laut Bundeslandwirtschaftsministerium (BMEL) die Forscher und Entwickler in Deutschland über zwei Millionen Tiere für Versuche ein. Davon waren 83 Prozent Nagetiere wie Mäuse und Ratten. Neun Prozent der Tiere waren Fische, rund vier Prozent Kaninchen und etwa zwei Prozent Vögel. Neuer Statistiken legte das Ministerium noch nicht vor.

Öffentliche Präsentation geplant

Die Fraunhofer-Forscher möchten ihre tierfreundliche Innovation nun auch einem breiterem Publikum jenseits der Labore präsentieren. Auf Einladung des Vereins „Ärzte gegen Tierversuche“ stellt Florian Schmieder den Multiorgan-Chip in einem populärwissenschaftlichen Vortrag am Dienstag, 17. März 2020, ab 19 Uhr in der Villa der Bürgerstiftung Dresden, Barteldesplatz 2, vor. Außerdem referiert die Genetikerin Dr. Dilyana Filipova vom Verein über weitere neue Technologien, die Tierversuche vermeiden helfen. Wer den Vortrag anhören will, muss sich allerdings vorab per E-Mail bei filipova@aerzte-gegen-tierversuche.de anmelden.

Autor: Heiko Weckbrodt

Quellen: Fraunhofer-IWS, Interview Schmieder, Oiger-Archiv, BMEL

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt