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Forschungsdesign 4.0: Wollen wir alles in Netz stellen?

Beizeiten hat das vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde (ISGV) in Dresden damit begonnen, Quellen und Forschungsergebnisse digital zugänglich zu machen. Dazu gehören auch diese gesammelten Erinnerungen an Urlaube zu DDR-Zeiten. Abb.: Bildschirmfoto (hw) von isgv.de

Beizeiten hat das vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde (ISGV) in Dresden damit begonnen, Quellen und Forschungsergebnisse digital zugänglich zu machen. Dazu gehören auch diese gesammelten Erinnerungen an Urlaube zu DDR-Zeiten. Abb.: Bildschirmfoto (hw) von isgv.de

Konferenz in Dresden widmet sich der Frage, wie die Digitalisierung das wissenschaftliche Arbeiten verändert

Dresden, 4. April 2018. Das Internet und die Digitalisierung haben nicht nur den Einzelhandel durcheinandergewirbelt, die Welt zu einem digitalen Dorf geschrumpft und die meisten von uns in Smartphone-Zombies verwandelt, sondern sie ermöglichen zudem neue Forschungsansätze. „Auch für Wissenschaftler beginnen die meisten Recherchen heute mit einem Mausklick im Internet“, betont Ira Spieker vom „Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde“ (ISGV) in Dresden. Durch diese Erstorientierung bei Google & Co. kann beispielsweise der Historiker beizeiten auf Befunde von Geologen, Ökonomen oder Archäologen stoßen, die sich aus ganz anderen Fachperspektiven seinem Forschungs-Steckenpferd genähert haben. Und diese Horizonterweiterung kann durchaus zu mehr interdisziplinärer Forschungsarbeit führen.

100 Teilnehmer aus zahlreichen Disziplinen erwartet

Diesen und weiteren Transformationen im Wissenschaftsalltag wird sich demnächst eine von Spieker mitorganisierte Konferenz in Dresden widmen: Zur Tagung „Forschungsdesign 4.0 – Datengenerierung und Wissenstransfer in interdisziplinärer Perspektive“ erwartet das ISGV rund 100 Historiker, Linguisten, Computerexperten und andere Spezialisten aus dem deutschsprachigen Raum. Vom 19. bis zum 21. April 2018 wollen sie in der Sächsischen Staats- und Universitätsbibliothek SLUB diskutieren, wie Forschung in Zukunft aussehen könnte, welche Rolle Online-Technologien dabei spielen – aber auch, welche Risiken die Digitalomania womöglich birgt.

Dr. Ira Spieker leitet im Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde (ISGV) in Dresden den Bereich "Volkskunde". Foto: ISGV

Dr. Ira Spieker leitet im Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde (ISGV) in Dresden den Bereich „Volkskunde“. Foto: ISGV

Vertrauen auf den mündigen Bürger – oder doch lieber filtern und kommentieren?

„Unser Institut hat beizeiten angefangen, Forschungsergebnisse und Quellen digital zugänglich zu machen“, berichtet Ira Spieker. „Aber wollen wir wirklich alles online stellen? Geben wir alle Daten frei, wie viele fordern, und überlassen es dem mündigen Bürger, sich selbst ein Bild zu machen? Oder sollten wir immer den Kontext und die Interpretation mitliefern? Oder ist das schon wieder zu übergriffig?“, fragt sich zweifellos nicht nur die ISGV-Forscherin. Ein Beispiel sei der Nachlass von Adolf Spamer, den das Institut derzeit erschließt und digitalisiert. Dazu gehört auch das „Corpus der Segen und Beschwörungsformeln“ (CSB), den der Volkskundler ab den 1920er bis in die 1950er Jahre hinein zusammengetragen hat. Die rund 23.000 Formeln spiegeln Glaubensvorstellungen und laienmedizinische Praktiken, die jenseits der „Schulmedizin“ im „einfachen Volk“ seit dem Mittelalter verbreitet waren. Spamer selbst sei zweifellos ein seriöser Forscher gewesen, der die nötige wissenschaftliche Distanz zu seinem Untersuchungsgegenstand hatte, betont Spieker. Dennoch stelle sich die Frage, ob das Institut womöglich allerlei Esoteriker anfeuere, wenn es das CBS „einfach so“ ins Netz stellt. Ähnliches gelte für Quellenmaterial aus der nationalsozialistischen Zeit.

Beizeiten hat das vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde (ISGV) in Dresden damit begonnen, Quellen und Forschungsergebnisse digital zugänglich zu machen. Dazu gehört auch dieses Bilderarchiv.Abb.: Bildschirmfoto (hw) von isgv.de

Beizeiten hat das vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde (ISGV) in Dresden damit begonnen, Quellen und Forschungsergebnisse digital zugänglich zu machen. Dazu gehört auch dieses Bilderarchiv.Abb.: Bildschirmfoto (hw) von isgv.de

Neue Forschungsansätze auch für Historiker durch Analyse großer Datenmengen

Breiteren Raum werden während der Tagung aber wohl eher die Chancen der Digitalisierung einnehmen. Um ein Beispiel zu nennen: Weil immer mehr – manuell sonst nur mit großem Zeitaufwand auswertbare – Quellen den Weg ins Netz finden, werden Analysen großer Datenmengen („Big Data“) und letztlich ganz neue Forschungsansätze möglich: Eine Volltext-Suche in alten Adressbüchern erlaubt beispielsweise Unterschungen, wie sich die Bewohnerschaft, Gewerbe und Minderheiten in einem Stadtviertel über die Jahrhunderte hinweg verändert haben. Früher brauchten Historiker ein ganzes Leben für solche Fleißarbeiten  heute ist dies durch Volltext-Suchen in viel kürzerer Zeit möglich.

Und längst ist es auch usus, Rohdaten aus großen Experimentalanlagen wie dem LHC am Cern ins Netz zu stellen – schon Hekatomben von Forschungsarbeiten sind aus der Nachanalyse solcher offen zugänglichen Daten entstanden.

Bleibt der Feldforscher in seiner Filterblase?

Andere Referenten wollen zur Konferenz darüber diskutieren, welche Programmierkenntnisse der Historiker von heute braucht, um noch in seinem Kernfach mithalten zu können, in welchem Maße sich Feldforscher in Filterblasen bewegen, wie man die inzwischen unzähligen Forschungsdatenbanken kompatibel zueinander machen kann und wie die Digitalisierung dabei helfen kann, auch Laien an den Ergebnissen der Wissenschaftler rasch teilhaben zu lassen.

Über das ISGV

Hauptveranstalter der Tagung ist das ISGV. Dieses außeruniversitäre Landesinstitut am Zelleschen Weg wurde 1997 in Dresden gegründet und hat rund 30 feste Mitarbeiter. Erst kürzlich hatte das ISGV einen Förderzuschlag vom Freistaat Sachsen bekommen, um die „Zäsur 1918“ am Ende des I. Weltkrieges zu erforschen.

Autor: Heiko Weckbrodt

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt

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