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Landwirtschaft 4.0: Sachsen schicken Feldschwarm über die Felder

In der Landwirtschaft 4.0 vernetzen sich die Feldmaschinen - die Rolle des Menschen in dieser neuen Agrarwelt ist noch unklar. Foto: John Deere

In der Landwirtschaft 4.0 vernetzen sich die Feldmaschinen – die Rolle des Menschen in dieser neuen Agrarwelt ist noch unklar. Foto: John Deere

Wachstumskern soll Sachsen wieder führende Position im Landmaschinenbau verschaffen

Dresden/Neustadt in Sachsen, 5. Juli 2017. 27 Jahre nach dem Untergang des DDR-Landmaschinenkombinats „Fortschritt“ möchten elf Unternehmen und Institute der sächsischen Agrartechnik-Industrie wieder zu alter Größe verhelfen. Sie haben heute in der Gläsernen VW-Manufaktur in Dresden ein Konsortium „Feldschwarm“ gegründet, das Hightech-Fahrzeuge für die Landwirtschaft der Zukunft entwickeln soll. „Wir wollen Sachsen eine führende Position im wachsenden Markt für autonome Landmaschinen verschaffen“, verkündete Geschäftsführer Thomas Pohlmann vom Technologie-Unternehmen WTK-Elektronik, der das Projekt mitkoordiniert.

Auch Marktführer „John Deere“ im Konsortium

Zu den Partnern gehören Schwergewichte wie auch kleinere Firmen. Darunter sind die TU Dresden, zwei Fraunhofer-Institute aus Dresden und Chemnitz, zahlreiche Mittelständler aus der Region zwischen Dresden und Neustadt in Sachsen sowie der Weltmarktführer für Landmaschinen, der US-Konzern „John Deere“. Zusammen setzen sie zwölf Millionen Euro für das Verbundprojekt ein. 70 Prozent davon sind Fördergelder vom Bundesforschungsministerium.

Geschäftsführer Thomas Pohlmann von der WTK-Elektronik aus Neustadt Sachsen ist Sprecher des "Feldschwarms". Foto: Heiko Weckbrodt

Geschäftsführer Thomas Pohlmann von der WTK-Elektronik aus Neustadt in Sachsen ist Sprecher des „Feldschwarms“. Foto: Heiko Weckbrodt

Kombinat „Fortschritt“ belieferte einst den ganzen Ostblock

Binnen zehn Jahren sollen in diesem neuen „Feldschwarm“-Wachstumskern zwischen Dresden, Chemnitz und Neustadt in Sachsen mindestens 300 neue Jobs entstehen. Die Teilnehmer rechnen mit zusätzlichen Umsätzen von 200 Millionen Euro jährlich. Und der eine oder andere liebäugelt kaum verbrämt damit, dass in Sachsen wieder eine Landmaschinenindustrie von europäischem Rang entstehen könnte – wie zu Zeiten des „Fortschritt“-Kombinats, das von seinem Hauptsitz in Neustadt in Sachsen aus bis 1990 den ganzen Ostblock belieferte und über 58.000 Beschäftigte hatte.

Die AutoTram - ein rollendes Labor, das zeigen soll, wie der elektromobile Nahverkehr der Zukunft aussehen könnte. Abb.: FHG

Die AutoTram – ein rollendes Labor, das zeigen soll, wie der elektromobile Nahverkehr der Zukunft aussehen könnte. Abb.: FHG

Initiative ging von Fraunhofer-Ingenieuren vom IVI Dresden aus

Denn der technologische und wirtschaftliche Ansatz von „Feldschwarm“ ist anspruchsvoll, risikoreich – birgt aber eben auch viele Chancen bis hin zu neuen Unternehmens-Gründungen. Ausgangspunkt dafür waren fahrzeugtechnische Konzepte, die die Teams von Prof. Matthias Klingner vom Fraunhofer-Institut für Verkehrs- und Infrastruktursysteme (IVI) ursprünglich für einen ganz anderen Zweck entwickelt hatten: für den längsten Bus der Welt, die Dresdner „Autotram“. Einige der Konzepte wurden auch durchaus schon im Agrarsektor getestet – so hatte John Deer schon vor Jahren fahrerlose Traktoren vorgestellt -, doch diese hatten sich bisher nicht durchsetzen können, auch, weil die technik damals noch nicht ausgereift genug war.

IVI-Leiter Dr. Matthias Klingner mit der Test Hybridbus-Teststrecke im Hintergrund, die wie eine "8" in den Hang geschnitten und dann wieder begrünt wurde. Foto: Heiko Weckbrodt

IVI-Leiter Dr. Matthias Klingner. Foto: Heiko Weckbrodt

Der Mensch führt, der Schwarm folgt

Basierend auf diesen und anderen Innovationen planen die Sachsen nun eine ganze Produktpalette aus hochautomatischen und elektrisch angetriebenen Mähdreschern, Säern und anderen Erntehelfern. Die sollen schnell und flexibel auf andere Funktionen und Werkzeuge umrüstbar sein. Diese fahrenden Roboter vernetzen sich untereinander per Funk, die Bordcomputer übernehmen die Abstimmung, wer welchen Ackerstreifen abgrast. Dann ziehen sie – angeführt von einem Leitfahrzeug, in dem immer ein Mensch sitzen soll – wie ein fleißiger Bienenschwarm selbstständig säend und erntend über die Felder. Sensoren und Satellitenortung helfen ihnen dabei, sehr präzise fruchtbare Ackerstellen zu finden und weniger fruchtbare Furchen nachzudüngen.

Vizepräsident und Technikchef Klaus Höhn vom US-Landtechnikkonzern "John Deere". Foto: Heiko Weckbrodt

Vizepräsident und Technikchef Klaus Höhn vom US-Landtechnikkonzern „John Deere“. Foto: Heiko Weckbrodt

Nicht den Traktorfahrer überfordern

„Dem Militär reicht es, per GPS ein Ziel bis auf 30 Zentimeter genau zu orten, damit sie ihre Rakete losschicken können. Unsere Erntemaschinen müssen sich dagegen bis auf den Zentimeter genau orientieren“, veranschaulichte „John Deere“-Technikchef Klaus Höhn die Herausforderungen, die die hochtechnologische „Landwirtschaft 4.0“ mit sich bringt. Zugleich warnte er davor, sich von deutschem Ingenieurgeist zu technologischen Extravaganzen hinreißen zu lassen, die kein Bauer haben will. „Unsere Kunden sind, das kann man nicht anders sagen, nun mal konservativ. Wir dürfen mit unserer Technik weder den Landwirt noch den Fahrer im Traktor überfordern.“

Sektor im Umbruch

Dass die Landwirtschaft indes so oder so vor großen Umbrüchen steht, daran haben die meisten Branchenkenner kaum Zweifel: Einerseits wird der Sektor immer technologie- und kapitalintensiver, was es für Bauern aus armen Ländern immer schwieriger macht, selbst im eigenen Binnenmarkt gegen die ausländische Konkurrenz zu bestehen. Andererseits haben drei weltweite Rekordernten in Folge die Marktpreise für Mais und andere Lebensmittel sehr in den Keller gedrückt, was wiederum den finanziellen Spielraum für kleinere Bauern eingeschränkt hat, beim Agrar-Wettrüsten mitzuhalten. Und dies hat nicht nur die Entwicklungsländer, sondern eben auch die großen Ausrüster mit drastischen Umsatzeinbüßen getroffen. „Wir haben in den letzten drei Jahren die tiefste Depression seit Jahrzehnten gesehen“, berichtet Klaus Höhn über die Umsatzeinbrüche bei „John Deere“ in den USA. „Aber immerhin: Wir haben überlebt.“

„Schneller, größer, schwerer“ war gestern

Derweil stößt aber auch die bisherige Strategie vieler Landmaschinenbauer, einfach immer stärkere, größere und schnellere Traktoren und Erntemaschinen auf den Markt zu werfen, zunehmend an rechtliche und praktische Grenzen: Sehr viel schwerer dürfen die Kolosse nicht mehr sein, ansonsten wird der Acker irreparabel verdichtet und auch gesetzliche Obergrenzen greifen dann.

So etwa stellen sich die Sachsen den Feldschwarm vor: Ein bemanntes Fahrzeug umgeben von autonomen Feldmaschinen. Abb.: WTK

So etwa stellen sich die Sachsen den Feldschwarm vor: Ein bemanntes Fahrzeug umgeben von autonomen Feldmaschinen. Abb.: WTK

Feldschwarm aus modularen und vernetzten Ernterobotern

Die „Feldschwarm“-Partner setzen nun auf leichtere Modul-Maschinen zum Beispiel aus Faserverbundstoffen, die nahezu beliebig kombinier- und umrüstbar sind und auch eigene Antriebszellen haben, damit der Bauer keinen Traktor mehr vorspannen muss. Und durch die selbstständige Navigation, Vernetzung und Abstimmung des Feldschwarms untereinander soll der Fuhrpark auch effizienter ausgelastet werden. „Autonomie ist da unser Königsziel, vorläufig reden wir erst mal nur von Automatisierung – der Mensch bleibt Teil des Systems“, betonte Prof. Thomas Herlitzius von der TU Dresden. Das heißt: Mindestens ein menschlicher Fahrer wird jeden Schwarm leiten und lenken. Statt von „Robotik“ spricht der TU-Professor daher auch von „Cobotics“ beim Feldschwarm-Konzept – im Sinne von mit dem Menschen „kollaborierenden“ Robotern.

Rationalisiert die Landwirtschaft den Agrar-Facharbeiter weg?

Die gesellschaftlichen Risiken, die die Ingenieure dabei herbeikonstruieren könnten, sieht der Agrarsystem-Experte indes auch. Risiken im Übrigen, die auch in der Debatte um die „Industrie 4.0“ eine große Rolle spielen: „Diese Entwicklung kann dazu führen, dass wir die Fachkräfte wegrationalisieren, weil dann jeder Ungelernte alles lenken kann.“

Autor: Heiko Weckbrodt

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt

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