Wirtschaft

Immer mehr Sachsen sind Multi-Jobber

Immer mehr Sachsen haben einen Zweitjob - viele von ihnen, weil sie sonst nicht über die Runden kommen würden. Foto (bearbeitet): Heiko Weckbrodt

Immer mehr Sachsen arbeiten in mehr als einem Job – viele von ihnen, weil sie sonst nicht über die Runden kommen würden. Foto (bearbeitet): Heiko Weckbrodt

DGB-Sprecher: Wir sehen diese Entwicklung mit Sorge

Dresden, 29. April 2015. Mehr und mehr Sachsen fristen ihren Lebensunterhalt, indem sie in mehreren Jobs arbeiten: Bei der letzten Zählung im September betraf dies rund 81.000 abhängig Beschäftigte und damit 2,1 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Das geht aus einer Statistik der Bundesarbeitsagentur hervor. Und dabei noch nicht einmal eingerechnet ist das Heer der Freiberufler, die nicht freiwillig selbstständig sind, sondern sich mangels Festanstellung mit zahlreichen De-facto-Jobs über Wasser halten. Mangels verlässlicher Statistiken gibt es hier nur Schätzungen und die beziffern diese Zahl auf einige Zehntausend Berufstätige im Freistaat.

„Wir sehen diese Entwicklungen mit Sorge: Offensichtlich gibt es in Sachsen zuviele Menschen, die mehrere Jobs annehmen müssen, um über die Runden zu kommen“, kommentierte der sächsische DGB-Bezirkssprecher Markus Schlimbach auf Oiger-Anfrage. Und dies gelte nicht nur für die Multi-Jobber in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen, sondern auch in den freischaffenden Tätigkeiten.

Ständige Jonglage, um Miete zahlen zu können

„Klar hätte ich gern wieder einen festen Job mit einem Gehalt, von dem ich leben kann“, erzählt beispielsweise Corinna Briene* aus Radebeul. „Aber Festanstellungen sind in der Branche, in der ich arbeite, eine Seltenheit geworden.“ Die 31-Jährige hatte einst Kulturwissenschaften studiert, war publizistisch tätig, bis sie im Zuge einer Entlassungswelle ihren Job verlor. Seitdem schlägt sie sich parallel mit wechselnden Nebenjobs, Auftragsarbeiten und Pauschalentgelt-Arbeiten durch: Den einen Tag führt sie Jugendliche durch Museen, den nächsten schreibt sie für ein Firmen-Magazin, den Tag drauf ist sie Assistentin eines Künstlers, von allerlei kleineren „Projekten“ einmal ganz abgesehen.

„Rechne ich Ausgaben, Steuern und so weiter ab, lande ich mit all dem umgerechnet weit unterm Mindestlohn“, sagt sie. Bei ihr sei diese Dauer-Jonglage zwischen vielen De-facto-Jobs alles andere als eine freiwillige Entscheidung gewesen, sondern schlicht eine finanzielle Notwendigkeit, um Miete und Essen bezahlen zu können, betont Corinna Briene*.

Montags Wächter, dienstags Altenpfleger, mittwochs Altenpfleger

Noch schwieriger sei es aber für andere Multi-Jobber, die all diese Bälle auch noch in Mini-Arbeiten mit fester Präsenzpflicht in der Luft halten müssen, meint sie. Eine Bekannte von ihr zum Beispiel arbeitete parallel bei einem Sicherheitsdienst, im Altenheim und habe parallel dazu noch eine Putz-Job. „Da wird es richtig kompliziert.“

Wenn der Lohn nicht reicht, Familie zu ernähren

Markus Schlimbach. Foto: DGB Sachsen

Markus Schlimbach. Foto: DGB Sachsen

Sicher gehen nicht alle Multi-Jobber aus purer finanzieller Not mehreren Arbeiten parallel nach. Man denke da beispielsweise an eine klassische Konstellation wie einen Büroangestellten mit festen Arbeitszeiten, der abends nebenberuflich im Familienbetrieb mithilft. Dennoch sei wohl davon auszugehen, dass eine Mehrheit der Beschäftigten mit mehr als einer Arbeit dies auch finanziellen Zwängen heraus tue, ist Gewerkschaftler Markus Schlimbach überzeugt. „Wir sehen da einen Zusammenhang mit den vielen Kurzarbeiter-Stellen, die frühere Vollzeitstellen ersetzt haben – da reicht für viele dann der Monatslohn nicht mehr, um von einem Job allein die Familie zu ernähren“, schätzt er ein.

Mindestens 3,1 % der Sachsen sind Multi-Jobber

Betrachtet man nur die abhängig Beschäftigten, so haben laut Arbeitsagentur-Statistik etwa 4,7 Prozent aller Berufstätigen in Sachsen mehr als einen Job. Umfragen des Statistischen Bundesamtes kommen auf eine etwas niedrigere Quote von 3,1 Prozent, womit Sachsen sogar unter dem Bundesdurchschnitt (5 %) liegen würde. Allerdings räumen die Bundes-Statistiker selbst ein, dass sie mit Umfragen nicht alle Multijobber sicher erfassen können.

Quelle: Destatis

Quelle: Destatis

Weitverbreitet in Einzelhandel und Gastronomie

Zudem verweist Schlimbach auf einen besonderen statistischen Effekt in Sachsen: In Schulen und vielen kommunalen Verwaltungen nämlich hatte es noch vor wenigen Jahren Kurzarbeits-Vereinbarungen gegeben, die den Trend zum Nebenjob befördert hatten, aber nun ausgelaufen sind. Dies verdecke in den Gesamtstatistiken ganz gegenläufige Entwicklungen in anderen Wirtschaftssektoren, vor allem im Einzelhandel und in der Gastronomie, wo ehemalige Vollzeit- und Feststellen zunehmend durch Kurzarbeit, Mehrfach-Job-Konzepte und erzwungene Selbstständigkeits-Modelle ersetzt würden.

Statt angeheuert nur noch „Mietkellner“

Ein Beispiel dafür seien die sogenannten „Mietkellner“, die nicht mehr in den Gaststätten angestellt werden, sondern wie Sub-Unternehmer für viele Wirte agieren sollen, berichtet Schlimbach: Diese Kellner kaufen am Tresen zum Beispiel das bestellte Bier und verkaufen es dann wie ein Zwischenhändler wieder dem Gast am Tisch. Dieses ursprünglich im Bayern ersonnene Modell schwappe jetzt auch nach Sachsen über. „Wir vermuten da den Versuch, den neuen Mindestlohn auszuhebeln“, sagt der DGB-Bezirkssprecher. „Dass diese Mietkellner von ihren Verkaufsgewinnen wirklich leben können bezweifele ich jedenfalls.“

Autor: Heiko Weckbrodt

* Name geändert, Konstellation verfremdet

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt