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Die Schamlaus stirbt aus

Die SM-Hundemaske in der Scham-Ausstellung im Hygienemuseum symbolisiert das "Sich selbst erniedrigen". Foto: Heiko Weckbrodt

Die SM-Hundemaske in der Scham-Ausstellung im Hygienemuseum symbolisiert das „Sich selbst erniedrigen“. Foto: Heiko Weckbrodt

Sonderschau im Hygienemuseum Dresden ergründet die Abgründe menschlicher Scham

Dresden, 25. November 2016. Schiefe Nase, erwischt bei Masturbieren, nackt sein, Altern, der Scheißesturm im Internet, Seelenmord und Sackratte – für jedes Individuum gibt es x unterschiedliche Gründe, sich zu schämen. 100 solcher Gründe und Anlässe rot zu werden haben Kurator Daniel Tyradellis und seine Helferinnen für die neue Sonderausstellung „Scham“ im Deutschen Hygienemuseum in Dresden zusammengetragen, die am 26. November 2016 öffnet. Anhand von rund 250 Videos, Fotos, Kunstobjekten und anderen, teils recht herausfordernden Exponaten versucht die Sonderschau zu ergründen, warum wir uns schämen und ob das gut oder schlecht ist.

Kurator Daniel Tyradellis. Foto: Heiko Weckbrodt

Kurator Daniel Tyradellis. Foto: Heiko Weckbrodt

Schämen ist zutiefst menschlich

„Sich schämen zu können, ist eine zutiefst menschliche Fähigkeit, um unser Zusammenleben zu gestalten“, nimmt Museumsdirektor Klaus Vogel die Scham gegen Vorwürfe in Schutz, ein zutiefst negativer und reaktionärer Impuls zu sein, der nur die Entfaltung der Persönlichkeit behindere. „Man kann sich Scham vielleicht abtrainieren, aber damit verliert man auch einen Sinn für Verhältnismäßigkeit.“

Dieses scheinbar "lustige" Schaubild ist an ein Foto angelehnt, auf dem eine US-Soldatin nackte arabische Gefangene demütigt. Foto: Heiko Weckbrodt

Dieses scheinbar „lustige“ Schaubild ist an ein Foto angelehnt, auf dem eine US-Soldatin nackte arabische Gefangene demütigt. Foto: Heiko Weckbrodt

Schmerzhafte körperliche Erfahrung, „dass etwas nicht stimmt“

Das sieht Kurator Daniel Tyradellis ganz ähnlich, verweist auf das positive Potenzial von Scham: eine „Korrektur, um Verhältnismäßigkeit zu finden, auch mit Blick auf die Behandlung anderer Menschen“. Konzipiert hat er die Ausstellung bewusst so, dass die Besucher die Reaktionen der anderen Besucher beobachten können, wenn die sich die teils recht offensiven Exponate anschauen oder sie ausprobieren: den Spiegelraum mit der eingebauten Personenwaage etwa, die jedes Übergewicht für alle sichtbar macht. Denn gerade Normüberschreitung mache Scham wesentlich aus, meint Tyradellis: Wenn das Individuum zu recht oder zu unrecht meine, von der „gesunden“ Norm abzuweichen, etwa zu klein, zu dick oder zu hässlich zu sein, oder auch einen Normenerstoß in der Behandlung anderer Menschen stark spüre, „erfahren wir in unserer Scham körperlich, dass etwas nicht stimmt.“

Wer schämt sich mehr: Die Frau, die obszöne Bilder auf dem Männerklo sieht oder die Schreiber? Im Hintergrund ein Vagina-Boot. Foto: Heiko Weckbrodt

Wer schämt sich mehr: Die Frau, die obszöne Bilder auf dem Männerklo sieht oder die Schreiber? Im Hintergrund ein Vagina-Boot. Foto: Heiko Weckbrodt

Auch Fremdschämen hat seinen sinn

Und so reflektieren die Exponate eben nicht nur Nacktheit, Voyeurismus oder Schönheitswettbewerbe, die auf die Demütigung des Einzelnen abzielen, sondern eben auch das „Fremdschämen“: für Regierungen, die Flüchtlinge mit scharfem Nato-Stacheldraht abzuwehren versuchen, für US-Soldatinnen, die vor nackten arabischen Gefangenen posieren, für grinsende Männer, die fremde Frauenbusen öffentlich betatschen…

Die Schamlaus alias Sackratte. Foto: Heiko Weckbrodt

Die Schamlaus alias Sackratte. Foto: Heiko Weckbrodt

Und ganz am Ende steht ein tierisches Symbol für das Ende der Scham, für unsere vermeintlich schamlose Gegenwart: die Schamlaus nämlich, auch als „Sackratte“ bekannt, nistete sich traditionell ausschließlich in menschlichen Schamhaaren ein. Weil aber die meisten Menschen heute Körperhygiene ernst nehmen, sich mehr und mehr Menschen aus verschiedenen Gründen ihre Schamhaare ganz abrasieren, hat die Schamlaus inzwischen evolutionär ganz schlechte Karten, könnte mangels ihrer Lebensgrundlage Scham gar aussterben…

Autor: Heiko Weckbrodt

Wer macht sich zum Affen: Mensch oder Tier? "Monkey Businss" ist eine Installation mit Kinect-Gestenerkennern vonJan M. Sieber aus dem Jahr 2011. Foto: Heiko Weckbrodt

Wer macht sich zum Affen: Mensch oder Tier? „Monkey Businss“ ist eine Installation mit Kinect-Gestenerkennern vonJan M. Sieber aus dem Jahr 2011. Foto: Heiko Weckbrodt

Besucherinformationen:

Was?

Sonderausstellung „Scham – 100 Gründe rot zu werden“

Wo?

Deutsches Hygiene-Museum Dresden, Lingnerplatz 1

Wann?

26. November 2016 bis 5. Juni 2017

Öffnungszeiten:

Dienstag bis Sonntag, Feiertage (außer 24./25.12. und 1.1.): 10 bis 18 Uhr

Eintrittspreise:

7 Euro, ermäßigt 3 Euro, Kinder und Jugendliche bis 16 Jahre frei

Die Statuen entstanden vor Jahren in den USA um Idealproportionen für amerikanische Männer und Frauen vorzugeben. Wer von dieser Norm abwich, hatte Anlass, sich zu schämen. Foto: Heiko Weckbrodt

Die Statuen entstanden vor Jahren in den USA um Idealproportionen für amerikanische Männer und Frauen vorzugeben. Wer von dieser Norm abwich, hatte Anlass, sich zu schämen. Foto: Heiko Weckbrodt

Begleitprogramm:

(Quelle: Hygienemuseum)

6. Dezember 2016, Dienstag, 19 Uhr

[K]EIN GRUND, SICH ZU SCHÄMEN?!
SCHAM UND BESCHÄMUNG IN ZEITEN DER SCHAMLOSIGKEIT
Die Veranstaltung nimmt Scham als soziales Regulativ moderner Gesellschaften vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen in den Blick: Untersucht wird die schützende und stabilisierende, aber auch ausgrenzende Funktion der Scham in Alltag und Zusammenleben.

Podiumsdiskussionen mit Impulsreferaten von
Prof. Dr. Dominik Schrage, TU Dresden: Scham im Zivilisationsprozess: Affektkontrolle und Gesellschaftsentwicklung
Prof. Dr. Marina Münkler, TU Dresden: Kulturelle Codierungen von Scham: Verhüllen, Verbergen, Schmatzen und Nießen
Prof. Dr. Gerd Schwerhoff, TU Dresden: Shame punishment“ – Beschämung als Strafe?
Prof. Dr. Marina Scharlaj, TU Dresden: „Public shaming“ als politische Kraft

Weitere Veranstaltungen der Reihe werden von April bis Juni 2017 stattfinden.

LITERARISCHE VERANSTALTUNGEN

19. Januar, Donnerstag, 19 Uhr

THOMAS MELLE

Der Autor von „Die Welt im Rücken“ spricht über das Leben mit bipolarer Störung.
In Kooperation mit der Sächsischen Landesärztekammer in der Reihe „Diagnosen“

1. März, Mittwoch, 19 Uhr

JULIA FRANCK UND MARCEL BEYER

Ein Gespräch über die Scham des Schwächeren und die Frage, wo Scham heute angesiedelt ist. Was kann angesichts des allzugänglichen Exhibitionismus im Internet und jenseits von altmodischen Etiketten als Intimität gelten.

GESPRÄCHE

24. Januar, Dienstag, 19 Uhr

DER SPUTNIK-MOMENT

Film und Gespräch
In Kooperation mit der Stiftung Männergesundheit

16. März, Donnerstag, 19 Uhr

FUCKUPNIGHT DRESDEN

Gespräche über Erfolgsdruck, Scheitern und Scham
In Kooperation mit der Agentur Gründernest, Dresden

27. März, Montag, 19 Uhr

GESCHLECHT, TABUS UND MACHT

Gespräch mit Ahmad Mansour

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt

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